Franz Rosenzweig im Ersten Weltkrieg1914/1915Wie die Mehrheit der deutschen Bevökerung begrüßten viele deutsche Juden den Kriegsausbruch im Sommer 1914 mit patriotischem Überschwang. In den jüdischen Zeitschriften erschienen neben Kriegsgedichten Aufrufe, sich für den Waffendienst zu melden, in den Synagogen wurde für den 'Sieg der deutschen Waffen' gebetet und es waren natürlich auch Feldrabbiner im Einsatz, um die jüdischen Soldaten zu unterstützen. Auch Franz Rosenzweig meldete sich freiwillig. Von patriotischem Überschwang war allerdings bei ihm keine Rede: "Ich habe noch nie gewusst, wie ganz und gar nicht ich mich als Deutscher fühle wie seit dem Kriegsausbruch", schrieb er am 9. September 1914 an seine Eltern. Mehr... Da Rosenzweig, der ja einige Semester Medizin studiert hatte, nach der zu Beginn des Krieges geltenden Rechtslage als kriegsuntauglich galt, meldete er sich als Sanitäter beim Roten Kreuz und wurde vom 19. September 1914 bis Ende Januar 1915 im besetzten Belgien eingesetzt. Nachdem aber auch die älteren Jahrgänge und die zunächst untauglich Gemusterten nach und nach zum Kriegsdienst eingezogen wurden, meldete sich Franz Rosenzweig, der 1912 gedient hatte, aber wegen eines Reiterschadens vorzeitig entlassen worden war, im April 1915 weg von der "gefahrlosen Pflegertätigkeit" zur Feldartillerie in Kassel. "Ihr wisst, dass ich diesen Schritt nicht zum Vergnügen getan habe, und dass ich ihn lange hinausgeschoben habe", schrieb er am 15. April 1915 an seine Eltern. Mehr... |
1916/1917Rosenzweig kam zur Flugabwehr, absolvierte im Januar/Februar 1916 einen Kurs an der Entfernungsmessschule in La Fère (Frankreich), wurde dann dem Flug-Abwehr-Kanonenzug 165 zugeteilt und am 13. März 1916 auf den Balkan abkommandiert.
Franz Rosenzweig war kein Pazifist; er hasste das Vökermorden, aber er hielt Kriege für unvermeidlich, glaubte an einen Deutschland aufgezwungenen Angriffskrieg, befürwortete einen starken Staat, ja war sogar noch gegen Ende des Krieges erklärter Monarchist und Demokratieskeptiker, und betrauerte die Niederlage Deutschlands und den Verlust des Bismarckschen Reiches. Im Gegensatz zu den meisten seiner ideologischen Mitstreiter erhielt sich Rosenzweig jedoch seine Objektivität etwa gegenüber den Motiven und Zielen der anderen kriegführenden Nationen: Krieg ist für Rosenzweig eine Art lebendiger Organismus, der entsteht, wenn es an der Zeit ist, der sich folgerichtig entwickelt und entfaltet, und der stirbt, wenn die Zeit dafür reif ist. Krieg ist nicht etwas für sich, sondern ein kompliziertes Geschehen zwischen den Völkern, ihren Interessen und Zielen, ein notwendiger Machtkampf, der zu Ende geht, wenn neue Verhätnisse eingetreten sind: "Der Krieg ist den Völkern ja kein Vernichter; aber er ist der große Entscheider". Mehr... Wenn man diese deutschfühlenden Texte liest, verwundert es nicht, dass Rosenzweig seinen ersten Text über Erziehung nicht über die jüdische Erziehung im engeren Sinne schrieb, sondern über die allgemeine, damals noch ausschließlich als christlich verstandene, Erziehung:
In diesem im Oktober 1916 verfassten "Volksschule und Reichsschule" betitelten Bildungsprogramm entwarf Rosenzweig – heute wieder ganz aktuell - das Modell einer Einheitsschule (Volksschule) bis zum 12. oder 13. Lebensjahr, der sich eine weiterführende Reichsschule anschließen sollte. Rosenzweig stellte sich für die Volksschule einen Unterricht auf möglichst breiter Grundlage vor, der stoffliche Universalität anstreben und die technische Neugier der Kinder nutzen sollte, um ihnen praktisches Wissen über die Dinge ihrer Umwelt zu vermitteln. Neben dem umfassend Praktischen sollte besonderen Wert auf die klassische deutsche Dichtung gelegt werden. Die daran anschließende weiterführende Schule nannte Rosenzweig deshalb "Reichsschule", weil aus ihr die Vertreter des Reiches, Beamte und Kaufleute, Ärzte und Techniker, hervorgehen sollten.
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Rosenzweig hatte "Volksschule und Reichsschule" seinem Freund Eugen Rosenstock, der ihn damals in dem berühmten Nachtgespräch am 7. Juli 1913, hatte überreden wollen, zum Christentum überzutreten, zugeschickt. Dieser bemühte sich, ohne dass Rosenzweig dies explizit gewollt hatte, um eine Veröffentlichung dieser Schrift. Und obwohl er Rosenzweigs Text dem Verleger vorsichtshalber unter dem Pseudonym "Adam Bann" angeboten hatte, erhielt er eine eindeutig antisemitisch motivierte Ablehnung, die er Rosenzweig am 16. Dezember 1916 in einem sarkastisch formulierten Brief schilderte: "Das Judentum verhindert und sperrt Ihnen Mitatmen und Stoffwechsel mit der Welt." Mehr... Rosenstocks Brief ist amüsant zu lesen, hat aber natürlich einen sehr ernsten Hintergrund. Das preußische Kriegsministerium hatte nämlich am 16. Oktober 1916, eine Erfassung aller im Heer dienenden und sämtlicher ausgemusterten Juden angeordnet, die sog.
Judenzählung, die der Höhepunkt einer beispiellosen antisemitischen, von völkischen Verbänden getragenen Hetzkampagne gegen jüdische Soldaten war:
Rosenzweig über die Judenzählung
In seinen im Januar 1917 als offener Brief an seinen Lehrer Hermann Cohen unter dem Motto "Zeit ist's" formulierten "Gedanken über das jüdische Bildungsproblem des Augenblicks" beschäftigt sich Rosenzweig nun speziell mit dem jüdischen Religonsunterricht, ohne dabei die Organisationsstruktur der höheren Schule anzutasten.
In diesem Text zeigt sich ein neues jüdisches Selbstbewusstsein bei Rosenzweig, das - stärker noch als in seinem berühmten Brief vom Oktober 1913 "Ich bleibe also Jude" – auch auf Abgrenzung besteht. Es geht Rosenzweig "um nichts Geringeres als um die Einführung in eine eigene, der übrigen Bildungswelt gegenüber wesentlich selbständige‚ jüdische Sphäre".
Dem Religionsunterricht wird die Aufgabe zugewiesen, zwischem dem weitgehend dem Judentum entfremdeten Einzelnen und der "Synagoge" (also den Institutionen des Gottesdienstes), eine verständnisvolle und lebendige Beziehung herzustellen, und zwar vornehmlich gestützt auf den jüdischen Kalender, den jüdischen Jahreszyklus.
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1917/1918
Rosenzweig hat sein Judentum während des Krieges vor allem in dem intensiven Briefwechsel mit Eugen Rosenstock, den er – nach einer drei Jahre währenden Pause nach dem Streitgespräch vom Juli 1913 – Ende 1916 wiederaufgenommen hatte, gefestigt.
Dieser Briefwechsel, an dem auch Rosenstocks Frau Margrit Rosenstock-Huessy tragend beteiligt war, ist einer der bedeutendsten jüdisch-christlichen Dialage des 20. Jahrhunderts.
Rosenzweig gelingt es in der Auseinandersetzung und Abgrenzung von dem "Gegnerfreund" Rosenstock und in dem liebenden Dialog mit dessen Frau die zentralen Gedanken seiner Philosophie zu formulieren.
Betrachtet man zahlreichen Aufsätze und die unzähligen Briefe, die Rosenzweig während des Ersten Weltkriegs nicht nur an Rosenstocks, sondern auch an andere Freunde und natürlich an seine Eltern geschrieben hat, so könnte der Eindruck entstehen, dass Rosenzweig während des Krieges irgendwo in der Etappe ein ruhiges, von Kampfhandlungen ungestörtes Gelehrtenleben gelebt hat. Rosenzweig selbst hat vor allem gegenüber seiner Mutter, die er nicht beunruhigen wollte, immer wieder behauptet, dass er fast wie im Frieden weiterarbeite, und er hat Kriegserlebnisse im engeren Sinne fast kaum in seine Briefe einfließen lassen. Fakt ist jedoch, dass Rosenzweig auf dem Balkan an vorderster Front eingesetzt und – obwohl er als Unteroffizier gegenüber den Mannschaften etwa bezüglich Unterbringung und Urlaub natürlich bevorzugt war – direkt an Kämpfen beteiligt war. So schrieb er etwa seinem Freund Hans Ehrenberg am 8. Mai 1917:
Eine Woche zuvor, am 2. Mai 1917, war Rosenzweig übrigens der Tapferkeitsorden IV. Klasse verliehen worden.
Dennoch vermitteln seine Briefe den Eindruck, dass er mehr unter den aufgezwungenen Besäufnissen als unter der stets gegenwärtigen Gefahr für Leib und Leben gelitten hat. "Heute bin ich auch müde, weil ich in der Nacht eine endlose Sauferei mitmachen musste. […] ich sitze bei so etwas immer wie ein Häufchen Unglück", schrieb er am 12. Mai 1918, kurz vor Beginn eines Offiziersanwärterkurses in Warschau, an Margrit Rosenstock. "Es graust mir in dieser Beziehung auch vor Warschau", schrieb er weiter und von seiner Sorge, mit seinem "friedlichen Dasein", wie er es jetzt hier habe, werde es in Warschau und nach Absolvierung des Kurses vorbei sein.
So beschrieb er denn auch sein Leben in Warschau als „ungewohnt atemlos“, dies aber nicht nur wegen der militärischen Anforderungen, sondern auch und vor allem wegen der Begegnung mit dem gelebtem Judentum, das ihm diese Stadt vermittelte:
"Dir muss ich noch ganz rasch etwas von Warschau schreiben: ich fand die erste jüdische Bibelübersetzung und Gebetbuchsübersetzung …"
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Rosenzweig setzte damit in Warschau fort, was er auch schon in Üsküp begonnen hatte: In Üsküp und bei Patroullien- oder Saziergängen in der Umgebung war er sowohl auf die
muslimische Welt, als auch auf das
sephardische Judentum gestoßen, in Warschau erlebte er das askenasische Judentum. Die dort erfahrenen Gebräuche und Riten beeindruckten ihn tief. Die Bedeutung, die der jüdische Ritus im "Stern der Erlösung" hat, geht maßgeblich auf dieses Erlebnis zurück:
"...so etwas habe ich noch nicht gehört; die brauchen keine Orgel; ein solcher rauschender Enthusiasmus, Kinder und Greise durcheinander. […] Auch ein Beten wie dort habe ich noch nicht gekannt ...", schrieb er am 18. Mai 1918 begeistert an seine Mutter.
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Ende September 1918 zogen sich die Balkantruppen zurück. Rosenzweig war an Malaria erkrankt und lag im Lazarett in Belgrad. Dennoch schrieb er weiter am "Stern der Erlösung". Vom 29.10.1918 bis zu seiner Entlassung aus dem Kriegsdienst am 30.11.1918 war Rosenzweig dann bei der Ersatzabteilung in Freiburg im Breisgau. |
Franz Rosenzweig
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