"Die reguläre Tätigkeit des Leiters, ergibt sich daraus, daß das Lehrhaus in eine ganz bestimmte jüdische Situation hineintrat. Sie läßt sich so umschreiben: es gab Schüler, aber keine Lehrer. Die Lehrer, die es gab, waren eben für diese Schüler keine. Also handelte es sich darum diesen neuen Schülern Lehrer, diesen Fragenden Antwortende zu finden. Der kühne Griff mußte gewagt werden in den Kreis, in dem sich die Lehrer versteckten: in den Kreis der Schüler selbst."
Franz Rosenzweig, der Begründer des Freien Jüdischen Lehrhauses in Frankfurt (1920), in einem Brief an Eduard Strauß, Martin Buber, Richard Koch und Ernst Simon (diese übernahmen im August 1923 kollektiv die Leitung des Lehrhauses, die Rosenzweig aufgrund seiner schweren Erkrankung Ende 1922 zunächst an Rudolf Hallo abgegeben hatte), 17.17.1923 |
Bei dieser Gelegenheit ein paar Worte über die Auswahl von Dozenten. Es muß in jedem Programm mindestens ein vollkommener Am-ha-aretz [Ungebildeter] sein und zwar möglichst jedesmal ein anderer. Natürlich genügt aber das Am-ha-aretz Sein nicht als Befähigungsnachweis, sondern er muß ein irgendwo anders her begründetes Renommee haben. Aus diesem Renommee und dem sog. 'Willen zum Judentum' lässt sich dann eine Lehrhausdozentur machen, wenn man nur es fertig bringt, dass der Betreffende möglichst wenig über das Judentum spricht, sondern möglichst nur über sich. [...] Das a-rabbinische und das antighettohaft Universelle des Programms, darauf kommt es an;"
Franz Rosenzweig in einem Brief an Rudolf Hallo, Anfang Dezember 1922 |
Über die zentrale Stellung des Lehrers hatte sich Rosenzweig auch schon in seinen früheren Erziehungsschriften Gedanken gemacht.
So auch in seinem "Volksschule und Reichsschule" betitelten Konzept für das staatliche Schulwesen:
Rosenzweig wollte eine Lehrer, „der sein Steckenpferd treibt, seinen Quartettabend hat, seine wissenschaftliche Literatur verfolgt wie als älterer Student, auch selber für Zeitschriften arbeitet, der des Nachmittags ein Stündchen oder zwei ins Cafe geht, dort Zeitungen liest und mit dem Theaterregisseur oder dem Kritiker der Tageszeitung plaudert, und nicht den griesgrämigen Pedanten, der ermüdet von zahllosen Stunden noch bis Mitternacht 'Aufsätze' oder 'Extemporalien' korrigiert. Dieser neue Gymnasiallehrer wird nicht wie der heutige, wenn dieser überhaupt außerhalb des eigenen Kreises verkehrt, sich den beamteten Juristenkreisen zugesellen, sondern er wird jene Schicht bürgerlich wohlanständiger und saturierter, aber doch immerhin Boheme verstärken, wie sie in unseren Städten die Lehrkörper der Universitäten und Kunstakademien zusammensetzt. Denn die Schule wird sich jenen Institutionen zuordnen und wird nach mehr als halbhundertjähriger Entartung in eine Stätte staatlicher Verwaltungszucht am Material der Jugendlichen vom sechsten bis achtzehnten Jahr wieder sein, was zu sein, sie nie hätte aufhören dürfen: Bildungsanstalt. Franz Rosenzweig, Volksschule und Reichsschule, Oktober 1916 |
Und für die jüdische Erziehung, wie Rosenzweig sie in "Zeit ist's" entwarf, wünschte er sich einen Lehrer, der zugleich Gelehrter war.
Gebraucht wurden "nicht bloß Lehrer, sondern auch arbeitende Gelehrte, eine Gruppe von Hunderten, die, unbeschwert von den äußeren und vor allem den inneren Pflichten des geistlichen Amts, der jüdischen Wissenschaft die nötige Breite der Produktionsmöglichkeiten geben werden. Und beide, der Lehrer und der Gelehrte, müssen die gleiche Person sein. Auch seine materielle Existenz muß auf beiden Seiten seiner Arbeit beruhen." Franz Rosenzweig, Zeit ist's, Januar 1917 |
Und schließlich werden in der Anfang 1920 verfassten Schrift "Bildung und kein Ende", die als programmatische Vorbereitung für das Freie Jüdische Lehrhaus in Frankfurt am Main gedacht war, in der für Rosenzweigs "Pädagogik" charakteristischen Weise Lehrer und Schüler in eins zusammengeführt:
"... wer es versteht, die Stimme solcher wirklichen Wünsche zu hören, der wird dann vielleicht auch erstehen, ihnen den Weg zu weisen, auf den sie verlangen. Das wird das Schwerste sein. Denn der Lehrer, der solchen gewachsenen Wünschen entgegenkommen kann, darf ja so gar nicht Lehrer nach irgendeinem Schema sein; er muß viel mehr sein und viel weniger; ein Meister zugleich und zugleich ein Schüler. Es genügt gar nicht, daß er selber 'weiß', noch daß er selber 'lehren kann'. Er muß etwas ganz andres können, selber - wünschen. Lehrer muß hier sein, wer 'wünschen kann'. Im gleichen Sprechzimmer und in der gleichen Sprechstunde, wo sich die Schüler finden, werden auch die Lehrer entdeckt werden. Und es wird vielleicht der Gleiche in der gleichen Sprechstunde als Meister und als Schüler erkannt. Ja eben erst wenn das geschieht, ist es ganz gewiß, daß er zum Lehrer taugt." Franz Rosenzweig, Bildung und kein Ende, Anfang 1920 |