Dr. Cordula Tollmien Franz Rosenzweig über Ritus und Gebet

Franz Rosenzweig

(1886-1929)


über die Bedeutung von Ritus, Gesang und Gebet im Judentum

 
"Aber ursprüglich ist der Gesang vielstimmig gleichen Tons und Atems, und über allem Inhalt des Gesanges steht die Form dieser Gemeinsamkeit. Ja der Inhalt ist selbst weiter gar nichts als die Begründung für diese seine Form. Man singt nicht gemeinsam um eines bestimmten Inhalts willen, sondern man sucht sich einen gemeinsamen Inhalt, damit man gemeinsam singen kann."

Franz Rosenzweig über die Bedeutung des Gesangs im Judentum im Dritten Buch des Zweiten Teils von "Der Stern der Erlösung", GS II, S. 218.

 
"Und so kommt das Gebet, das an sich keine magischen Kräfte hat, dennoch, indem es der Liebe den Weg erleuchtet, zu magischen Wirkungsmöglichkeiten. Es kann in die göttliche Weltordnung eingreifen. Es kann der Liebe die Richtung geben auf etwas, was noch nicht reif zur Liebe, noch nicht reif zum Beseeltwerden ist."

Franz Rosenzweig über die Bedeutung des Gebets im Judentum in der Einleitung zum Dritten Teil von "Der Stern der Erlösung", GS II, S. 301.

 
"Zwischen Tag und Jahr ist die Woche gesetzt, am Himmel begründet durch den Lauf des Mondes, doch längst von ihm gelöst, selbst dort wo der Wechsel des Monds noch die Messung der Zeiten bestimmt, und so zu einer eigenen rein menschlichen Zeit geworden. Und rein menschlich, ohne Grund in der Schöpfungswelt, wie er beim Tag im Wechsel von Wachen und Schlafen, beim Jahr im Wechsel von Saat und Ernte vor-lag, von der Schrift deshalb nur als Gleichnis des Werks der Schöpfung selber erklärt, ist der Wechsel, der dem Menschen die Woche zum nunc macht, gesetzt als Wechsel von Werk- und Ruhetag, Arbeit und Beschaulichkeit. So ist die Woche mit ihrem Ruhetag das rechte Zeichen der menschlichen Freiheit, für welches sie denn auch die Schrift erklärt, da wo sie nicht den Grund, sondern den Zweck sagt. Sie ist die wahre "Stunde" unter den Zeiten des gemeinsamen menschlichen Lebens, für den Menschen allein gesetzt, freigeworden vom Weltlauf der Erde und doch ganz und gar Gesetz für die Erde und die wechselnden Zeiten ihres Dienstes. [...] Die Woche ist mehr, als was sie als menschgesetztes Gesetz der Kultur ist: irdisches Gleichnis des Ewigen; als gottgesetztes Gesetz des Kults zieht sie das Ewige nicht bloß gleichnishaft, sondern in Wirklichkeit ins Heute. Sie kann Keimzelle des Kults sein, weil sie die erste reife Frucht der Kultur ist. Weil sie die rein menschlich-irdische Befestigung des flüchtigen Augenblicks ist, deshalb geht von ihr alle göttlich-überirdische Verewigung des Augenblicks aus. Von ihr aus werden dann auch der Tag, auch das Jahr Menschenstunden, zeitliche Behausungen, in die das Ewige eingeladen wird. In der alltäglich-allwöchentlich-alljährlichen Wiederholung der Kreise des kultischen Gebets macht der Glaube den Augenblick zur "Stunde", die Zeit aufnahmebereit für die Ewigkeit; und diese, indem sie Aufnahme in der Zeit findet, wird selber - wie Zeit."

Franz Rosenzweig über die Bedeutung des wöchentlichen Ritus im Judentum in der Einleitung zum Dritten Teil von "Der Stern der Erlösung", GS II, S. 324.

 

Rosenzweigs Begegnung mit dem gelebten Judentum in Warschau 1918