Franz Rosenzweig:

"Ich bleibe also Jude"
 

Franz Rosenzweig und Rudolf Ehrenberg

Über seinen Vetter Rudolf Ehrenberg (1884–1969), der - weil er eine christliche Mutter hatte - schon als Kind getauft worden war, hatte Rosenzweig den Rechtshistoriker und überzeugten Christen Eugen Rosenstock (1888–1973) kennengelernt. Im so genannten “Leipziger Nachtgespräch” vom 7.7.1913 überredeten seine beiden christlichen Freunde Rosenzweig zur Konversion. Rosenzweig erbat sich jedoch eine Bedenkzeit, in der er sich intensiv mit seinem Judentum beschäftigen wolle, da er als Jude, nicht als Heide konvertieren wollte. Nach Monaten "gründlicher Überlegung" teilte Rosenzweig Ehrenberg dann am 31. Oktober 1913 mit, dass er Jude bleiben wolle:

 

Berlin, 31.10.1913.

 

Lieber Rudi, ich muß dir mitteilen, was dich bekümmern und, zunächst mindestens, Dir unbegreiflich sein wird: ich bin in langer und, wie ich meine, gründlicher überlegung dazu gekommen, meinen Entschluß zurückzunehmen. Er scheint mir nicht mehr notwendig und daher, in meinem Fall, nicht mehr möglich. Ich bleibe also Jude.

Wenn ich dir im folgenden die Gründe auseinanderzusetzen suche, so tue ich es nicht bloß, weil ich dir nach dem Gang der Sache die­se Rechenschaft schuldig bin und weil ich unsre Freundschaft da­durch vielleicht am Leben erhalten kann, sondern weil mein neuer Standpunkt, anders als mein alter, die - theoretische - Anerken­nung auch von dem Christen verlangt.

In dem Leipziger Nachtgespräch, wo mich Rosenstock Schritt für Schritt aus den letzten relativistischen Positionen, die ich noch hielt, herausdrängte und mich zu einer unrelativistischen Stellung­nahme zwang, war ich ihm deshalb von vorneherein unterlegen, weil ich das Recht dieses Angriffs auch von mir aus bejahen muß­te. Hätte ich ihm damals meinen Dualismus Offenbarung und Welt mit einem metaphysischen Dualismus Gott und Teufel un­terbauen können, so wäre ich unangreifbar gewesen. Aber daran hinderte mich der erste Satz der Bibel. Dieses Stück gemeinsamen Bodens zwang mich, ihm standzuhalten. Es ist auch weiter in den folgenden Wochen der unverrückte Ausgangspunkt geblieben. Je­der Relativismus der Weltanschauung ist mir nun verboten.

Was mich ferner zwang, ihm nicht bloß zu stehen, sondern auch nachzugeben, das weißt du sehr gut, und hast es in den Predigten (der vom Ketzer) [1] ausgesprochen,  daß ich mein Judentum begrifflich christianisierte, daß ich die Gemeinschaft des Glaubens mit euch teilte, wenigstens zu teilen meinte. Deshalb war ich damals schon durch Rosenstocks einfaches Bekenntnis, mit dem doch sein An­griff nur begann, mit einem Schlage entwaffnet. Daß ein Mensch wie Rosenstock mit Bewußtsein Christ war (denn bei dir waren diese Dinge ja noch im flüssigen Aggregatzustand des Problems), dies warf mir meine ganze Vorstellung vom Christentum, damit aber von Religion überhaupt und damit von meiner Religion, über den Haufen. Ich hatte geglaubt, mein Judentum christiani­siert zu haben. In Wahrheit hatte ich umgekehrt das Christentum judaisiert. Ich hatte das Jahr 313 [2] für den Beginn des Abfalls vom wahren Christentum gehalten, weil - es für das Christentum den entgegengesetzten Weg durch die Welt eröffnet, den das Jahr 70 [3] für das Judentum eröffnet. Ich hatte der Kirche ihren Herrscher­stab verargt, weil ich sah, daß die Synagoge einen geknickten Stab hält. Du warst Zeuge, wie ich von dieser Erkenntnis aus mir die Welt neu aufzubauen begann. In dieser Welt - und ein auf dieses Drinnen unbezogenes Draußen ließ ich ja nicht mehr gelten (und lasse es auch jetzt nicht gelten) - in dieser Welt also schien für das Judentum kein Platz zu sein. Indem ich daraus die Konse­quenz zog, machte ich gleichzeitig einen persönlichen Vorbehalt, dessen Wichtigkeit für mich du ja weißt; ich erklärte, nur als Jude Christ werden zu können, nicht durch die Zwischenstufe des Hei­dentums hindurch. Ich hielt diesen Vorbehalt für rein persönlich; du billigtest ihn in Erinnerung an das Urchristentum; es war das kein Irrtum von dir; die Judenmission steht tatsächlich auf die­sem Standpunkt, den ich für persönlich hielt, und wünscht, daß der gesetzestreue Jude auch während der Vorbereitungszeit bis zum Augenblick der Taufe gesetzestreu lebt. Gleichwohl war hier der Punkt, wo unsre Wege sich wieder trennten. Laß mich den Standpunkt der Judenmission vorläufig beiseitesetzen und nur die Abweichung zwischen uns ansehen. Du machtest dir meine Stellung zwischen Judentum und Christentum verständlich, in­dem du sie in die Entstehungszeit des Christentums zurückver­legtest; ich hingegen machte mir den übergang möglich, indem ich den Ebräerbrief nachdatierte, nicht grade um die achtzehn Jahrhunderte, aber jedenfalls um „die" Jahrhunderte. Du pfropf­test das Reis F. R. auf den lebendigen Stamm „Judentum im er­sten Jahrhundert" ; ich den Ebräerbrief auf den lebendigen Ast „Judentum des zwanzigsten Jahrhunderts". Diesen Ast nahm ich dabei ebenso selbstverständlich für lebendig wie du ihn für tot, verdorrt nahmst. Wir taten es beide naiv, ich meine naiv, insofern wir unsre Abweichung voneinander nicht merkten. Hätten wir sie gemerkt, so hätten wir sie nicht verstanden. Denn sie ist nicht bloß Abweichung, sie ist zugleich der objektive Zusammenhang, der zwischen uns besteht.

1. 11.

Das Christentum erkennt den Gott des Judentums an, nicht als Gott aber als den „Vater Jesu Christi". Es hält sich selbst an den „Herrn", aber weil es weiß, daß nur er der Weg zum Vater ist. Er bleibt als der Herr bei seiner Kirche alle Tage bis an der Welt Ende. Dann aber hört er auf, Herr zu sein, und wird auch er dem Vater unteran sein, und dieser wird - dann - Alles in Allem sein [4]. Was Christus und seine Kirche in der Welt be­deuten, darüber sind wir einig: es kommt niemand zum Vater denn durch ihn [5].

Es kommt niemand zum Vater - anders aber wenn einer nicht mehr zum Vater zu kommen braucht, weil er schon bei ihm ist. Und dies ist nun der Fall des Volkes Israel (nicht des einzelnen Juden). Das Volk Israel, erwählt von seinem Vater, blickt starr über Welt und Geschichte hinüber auf jenen letzten fernsten Punkt, wo dieser sein Vater, dieser selbe, der Eine und Einzige - „Alles in Allem"!  - sein wird. An diesem Punkt, wo Christus auf­hört der Herr zu sein, hört Israel auf erwählt zu sein; an diesem Tage verliert Gott den Namen, mit dem ihn allein Israel anruft; Gott ist dann nicht mehr „sein" Gott. Bis zu diesem Tage aber ist es Israels Leben, diesen ewigen Tag in Bekenntnis und Handlung vorwegzunehmen, als ein lebendes Vorzeichen dieses Tages dazu­stehen, ein Volk von Priestern, mit dem Gesetz, durch die eigene Heiligkeit den Namen Gottes zu heiligen. Wie dieses Volk Gottes in der Welt steht, welche äußeren (Verfolgung) und inneren (Er­starrung) Leiden es durch seine Absonderung auf sich nimmt, darüber sind wir wieder einig.

Dennoch, da diese Leiden der Weltverneinung von der Synagoge in der gleichen Endhoffnung aufgenommen werden wie von der Kirche die Leiden der Weltbejahung, und da das nicht bloß ein unbewußtes und zufälliges Zusammentreffen in der Ewigkeit (wie etwa zwischen dem Gläubigen und dem „allgemein-menschlichen" Pazifizisten) ist, sondern auch die Wurzeln dieser Hoffnung, der Gott aller Zeit hier und dort, zusammenentspringen, die Offen­barung des Alten Bundes uns gemeinsam ist: so sind Kirche und Synagoge aufeinander angewiesen.

Die Synagoge, unsterblich, aber mit gebrochenem Stab und die Binde vor den Augen, muß selbst auf alle Weltarbeit verzichten und alle ihre Kraft darauf verwenden sich selbst am Leben und rein vom Leben zu erhalten. So überläßt sie die Weltarbeit der Kirche und erkennt in ihr das Heil für alle Heiden, in aller Zeit. Sie weiß, daß, was für Israel die Werke des Kults, für die Welt außerhalb Israels die Werke der Liebe wirken. Aber sie weigert sich, der Kirche zuzugestehn, daß die Kraft, aus der jene die Werke der Liebe tut, mehr als göttlich, und selber eine Gottes­kraft sei. Hier schaut sie starr in die Zukunft.

Und die Kirche, mit dem unzerbrechlichen Stab, weltoffenen Auges, siegessichere Kämpferin, ist allzeit in Gefahr, daß ihr die Be­siegten Gesetze geben. Allen zugewandt soll sie sich dennoch nie ans Allgemeine verlieren. Ihr Wort soll allzeit eine Torheit bleiben und ein Ärgernis [6]. Daß es eine Torheit bleib dafür sorgen die Griechen, damals wie heut und künftig. Sie werden immer wieder fragen: warum denn grade dies Wort eine Gotteskraft sein solle und nicht jenes andre und jenes dritte Wort ebenso gut, - warum grade Jesus und nicht (oder: nicht auch) Goethe. Und ihre Rede wird gehen bis zum letzten Tag, nur wird sie immer leiser werden, mit jedem äußeren oder inneren Sieg der Kirche immer leiser, denn die Weisheit, die sich weise dünkt, verstummt vor dem Augenschein; und wenn der letzte Grieche durch das Wirken der Kirche in der Zeit stumm geworden ist, so wird das Wort vom Kreuz - am Ende der Zeit, aber noch immer in der Zeit - niemandem mehr eine Torheit sein. Aber ein Ärgernis bleibt es unabänderlich auch noch in diesem Augenblick. Keinem Grie­chen war es ein Ärgernis, daß er eine Gotteskraft in der Welt aner­kennen sollte: er sah ja die Welt voller Götter; nur dies war ihm unfaßbar, daß er grade den einen Heiland am Kreuz verehren sollte; und so auch heute und so künftig. Aber die Synagoge trug die Binde vor den Augen; sie sah keine Welt - wie hätte sie Götter darin sehen sollen. Sie sah nur mit dem profetischen Auge des Innern und also nur das Letzte und Fernste. So wurde ihr die Forderung, das Nächste, ein Gegenwärtiges, so zu sehen wie sie nur das Fernste sah, zum ärgernis; und so heute und so zukünftig. Darum findet die Kirche allezeit, wenn sie vergißt, daß sie ein ärgernis ist und sich mit dem „Allgemeinmenschlichen" aus­gleichen möchte, was den Griechen, die ja gern wie jener Kaiser auch Christus eine Statue in ihrem Göttertempel errichten wür­den, hochwillkommen wäre, dann findet die Kirche in der Syna­goge die stumme Mahnerin, die, vom Allgemeinmenschlichen unverlockt, nur vom ärgernis weiß; und da fühlt sie sich wieder positiv und sagt wieder das Wort vom Kreuz. Und daher weiß die Kirche, daß Israel aufbewahrt wird bis zu dem Tag, wo der letzte Grieche eingegangen, das Werk der Liebe vollendet ist und der jüngste, der Erntetag der Hoffnung anbricht. Aber was die Kirche so Israel als Ganzem zugesteht, das weigert sie sich dem einzelnen Juden zuzugestehn; an ihm wird und soll sie ihre Kraft erproben, ob sie ihn gewinnt. Denn ihr ist der Blick in die Zukunft nicht wie der Synagoge Kraftquelle des Glaubens sondern nur ein Zielbild der Hoffnung; die Kraft ihres Glaubens heißt sie, um sich zu blicken und das Werk ihrer Liebe zu tun in der Gegenwart.

Damit hätte ich dir das Wesentliche gesagt, wenigstens soweit es die Auseinandersetzung mit dem Christentum betrifft. Doch läßt sich von hier aus auch alles übrige Innerjüdische entwickeln, wie mir scheint. Soviel wirst du schon sehen, daß ich begrifflich nicht mehr beim Christentum zu Gaste gehe (sprachlich-terminologisch natürlich, doch da lebt keine Richtung bloß von Eigenem). Ich fühle mich in den wichtigsten Punkten, vor allem in dem meiner bisherigen ausgesprochensten Abweichung, der Lehre von der Sünde, jetzt in vollkommener - und ungewollter, rein als Konse­quenz aus dem dir hier Mitgeteilten entsprungener - Überein­stimmung mit der jüdischen Lehre, deren Aufweisbarkeit im jüdi­schen Kult und Leben ich früher bestritt, jetzt aber anerkenne. Wie gesagt, ich bin dabei, das ganze System der jüdischen Lehre mir auf eigener jüdischer Grundlage klar zu machen. Ich bin nicht mehr der Ketzer deiner achtzehnten Predigt, der vom Glauben nimmt und von der Liebe nicht; ich nenne jetzt andre Namen und lehre andre Sätze. Und dennoch weiß ich mich vergangen nur vor dem Willen Eures Herrn, aber nicht vergessen von Gott - von dem Gott, dem einst auch euer Herr untertan sein wird. Das ist die Verbindung von Gemeinschaft und Ungemeinschaft (Gemein­schaft, notwendige, weil aus gleicher Wurzel gespeiste), des ewigen Ziels, Aufeinanderangewiesenheit und daher Trennung in aller Zeit, die ich dir vorlege, damit du sie objektiv anerkennst. Es handelt sich nicht um Anerkennung der Zugehörigkeit des einzelnen Juden zum Volk Israel (die bleibt immer problematisch und für die Kirche in dubio nicht vorhanden), sondern um die Anerkennung dieses Volks Israels selber vom Standpunkt christlicher Theologie.

Bis Mittwoch früh würde mich ein Brief oder eine Postkarte hier erreichen. Wenn du mir gleich etwas sagen kannst, so wäre mir das sehr lieb. So sehr mit Absicht ich für diese erste Auseindersetzung die Schriftlichkeit gewählt habe, des ungestörten Zusam­menhangs wegen, so peinlich ist es dann, ein solches Wort wie ins Leere gesprochen zu haben und tagelang keine Antwort zu hören. Also für jedes Wort, auch eine bloße „Empfangsbestätigung" wäre ich dir dankbar. Dein Franz.

 

Franz Rosenzweig an Rudolf Ehrenberg, 31.10.1913, zitiert nach: Franz Rosenzweig, Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften I: Briefe und Tagebücher (2 Bände durchpaginiert), hg. von Rachel Rosenzweig und Edith Rosenzweig-Scheinmann unter Mitwirkung von Bernhard Casper, Haag 1979, 1. Band 1900–1918; 2. Band 1918–1929, hier 1. Band, S. 132-137.

 

 



[1] Rudolf Ehrenberg: Ebr. 1025. Ein Schicksal in Predigten, später veröffentlicht Würzburg 1920. Rudolf Ehrenberg reflektierte hier über Kap. 10 Vers 25 aus dem Brief an die Hebräer: „und nicht verlassen unsere Versammlung, wie etliche pflegen, sondern einander ermahnen, und das um so mehr, je mehr ihr sehet, daß sich der Tag naht.“]

[2] Der römische Kaiser Konstantin I. präferierte seit etwa 313 (Toleranzedikt von Mailand) das Christentum als Religion des Römischen Staates.

[3] Zerstörung des Tempels in Jerusalem durch Titus, Sohn des Feldherrn Vespasian, zur Zeit Kaiser Neros.

[4] 1. Korinther 1528: „Wenn aber alles ihm untertan sein wird, alsdann wird auch der Sohn selbst untertan sein dem, der ihm alles untergetan hat, auf daß Gott sei alles in allem.“

[5] Johannes 146: „Jesus spricht zu ihm: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich.“

[6] 1. Korinther 123: „Wir aber predigen den gekreuzigten Christus, den Juden ein ärgernis und den Griechen eine Torheit.“