Dr. Cordula Tollmien Emmy Noether Lebensläufe

Emmy Noether (1882-1935) - Lebensläufe

Emmy Noether hat zu verschiedenen Anlässen ihres Lebens (Zulassung als Gasthörerin, Promotion, Habilitation) verschiedene Lebensläufe geschrieben. Hier finden Sie Faksimiles und Transkriptionen dieser Lebensläufe.

2. Oktober 1900: Antrag auf Zulassung als Gasthörerin an das Prorektorat der Universität Erlangen (Universitätsarchiv Erlangen A3/2 Nr. 113)

Erlangen, den 2. Oct[ober] 1900

An das Prorektorat der K[öniglichen] Universität Erlangen

Betreff: Bitte um Zulassung als Hörerin

Die gehorsamst Unterzeichnete Tochter des k[öniglichen] Universitätsprofessors Dr. Max Noether in Erlangen, geboren am 23. März 1882, wünscht, als Hörerin an der philosophischen Fakultät der K[öniglichen] Universität Erlangen zugelassen zu werden.
Dieselbe hat nach den beiliegenden beiden Prüfungszeugnissen im Monat April 1900 in Ansbach die Lehrerinnenprüfungen in der französischen und in der englischen Sprache mit Note I bestanden. Das mathematische Pensum des humanistischen Gymnasiums hat sie sich durch Privatunterricht bei Herrn Dr. Mäule in Stuttgart und Herrn Dr. E[rnst] Schöner, Professor am Gymnasium zu Erlangen, angeeignet.
Auf Grund dieser Vorbildung erlaubt sie sich, das K[öniglichen] Prorektorat ergebenst zu ersuchen, ihr die Erlaubnis zum Besuche sowohl der mathematisch-physikalischen, als der neuphilologischen Vorlesungen beim K[öniglichen] Staatsministerium erwirken zu wollen.
Gehorsamt Emmy Noether

Das Schreiben wurde dem Kultus-Ministerium "befürwortend gehorsamst vorgelegt" - Eingangsstempel des Ministeriums vom 4. Oktober 1900 und dort am 8. Oktober 1900 genehmigt.

Ich danke Heinrich Hirschfelder, Erlangen, und Frau Gertraud Lehmann vom Stadtmuseum Erlangen für die freundliche Überlassung dieses Textes. Der Fundort für die inzwischen von mir eingesehene Originalquelle lautet genau: Emmy Noether an den Prodekan, Antrag auf Zulassung als Gasthörerin, 2.10.1900, Zulassung von Frauen zum Universitätsstudium betr. 1896, Universitätsarchiv Erlangen A3/2 Nr. 113, o. P. Siehe zur Auswertung dieser bisher in der Noetherforschung nicht beachteten Quelle: Cordula Tollmien, "Das mathematische Pensum hat sie sich durch Privatunterricht angeeignet" – Emmy Noethers zielstrebiger Weg an die Universität, in: Mathematik und Gender 5, Tagungsband zur Doppeltagung Frauen in der Mathematikgeschichte + Herbsttreffen Arbeitskreis Frauen und Mathematik (hg. von Andrea Blunck, Renate Motzer, Nicola Ostwald), Franzbecker-Verlag für Didaktik in der Reihe 'Mathematik und Gender' des AK Frauen und Mathematik 2016, S. 1-12.

1907: Handschriftlicher Lebenslauf zur Promotion, Mündliche Prüfung am 13. Dezember 1907 (Universitätsarchiv Erlangen, Promotionsakte Emmy Noether 1907/08)

Archiv der Universität Erlangen, Promotionsakte Emmy Noether (1907/08, Phil. Fak. Nr. 2988); abgedruckt in: Emmy Noether, Gesammelte Abhandlungen – Collected Papers, hg. von N. Jacobson, Berlin Heidelberg New York Tokyo 1983. Dort ist als Quelle fälschlich das Universitätsarchiv Göttingen angegeben.

Ich, Amalie Emmy Noether, bayerischer Staatsangehörigkeit und israelitischer Konfession, bin geboren zu Erlangen am 23. März 1882 als Tochter des Kgl. Universitätsprofessors Dr. Max Noether und seiner Ehefrau Ida, geb. Kaufmann. Nach Vorbildung in Erlangen und Stuttgart legte ich 1900 die beiden "Prüfungen für Lehrerinnen der französischen und englischen Sprache" in Ansbach ab und erwarb 1903 als Privatstudierende das Absolutorium des Kgl. Realgymnasiums Nürnberg. Ich studierte von 1900 bis 1903 als Hörerin an der Universität Erlangen, Wintersemester 1903/4 in Göttingen und bin seit Herbst 1904 in Erlangen für Mathematik immatrikuliert. Meine Lehrer waren in Erlangen: die Herren Professoren Gordan, Noether, Reiger, Wehnelt, Wiedemann; Pirson, Bulle, Fester, Fischer; in Göttingen: Blumenthal, Hilbert, Klein, Minkowski, Schwarzschild. Ihnen allen bin ich für wissenschaftliche Förderung zu Dank verpflichtet. Meinen besonderen Dank spreche ich Herrn Geheimrat Gordan aus für die Anregung zu vorliegender Arbeit und für sein stets Interesse während ihrer Abfassung.

1908: Die der veröffentlichen Dissertation beigegebene gedruckte Fassung ihres Lebenslaufes weicht geringfügig von ihrem handschriftlicher Lebenslauf ab.

1919: Habilitationslebenslauf von Emmy Noether, verfasst im Mai 1919, Abschrift (Universitätsarchiv Göttingen Personalakte Noether)

Dieser insgesamt 5seitige Lebenslauf liegt hier nur in einer Abschrift von unbekannter Hand vor; er ist undatiert, Eingangsvermerk 4.6.1919, das ist der Tag von Emmy Noethers öffentlicher Probevorlesung und ihrer Zulassung als Privatdozentin. Zu den von Emmy Noether in diesem Lebenslauf genannten Veröffentlichungen siehe die Nr. 1 bis 13 in der Publikationsliste von Emmy Noether.

Ich, Amalie Emmy Noether, bin am 23. März 1882 zu Erlangen geboren, als Tochter des Universitätsprofessors Dr. Max Noether und seiner Ehefrau Ida, geb. Kaufmann. 1903 erwarb ich als Privatstudierende das Absolutorium des Realgymnasiums Nürnberg, vorher, 1900-1902, war ich als Hörerin an der Universität Erlangen zum Studium der Mathematik zugelassen. Das Wintersemester 1903/04 verbrachte ich in Göttingen, Herbst 1904 bis Frühjahr 1908 war ich in Erlangen als Studierende der Mathematik immatrikuliert.

Während meiner Studienzeit waren meine mathematischen Lehrer die Herren Gordan und Noether in Erlangen, Hilbert, Minkowski und Blumenthal in Göttingen. Dezember 1907 promovierte ich mit einerArbeit „Über die Bildung des Formensystems der ternären biquadratischen Form" in der philosophischen Fakultät der Universität Erlangen summa cum laude.

Nach der Promotion arbeitete ich wissenschaftlich mathematisch weiter und wurde von den Leiter[n] des Erlanger mathematischen Seminars; [sic!] den Herren M[ax] Noether, E[rhard] Schmidt,
E[rnst] Fischer privatim zur Unterstützung bei den seminaristischen Vorträgen und Übungen beigezogen. Im Sommersemester 1915 kam ich, aufgefordert von den hiesigen Mathematikern, nach Göttingen. Mit dem Wintersemester 1916 habe ich zur Unterstützung von Herrn Hilbert regelmäßig im hiesigen mathematischen Seminar vorgetragen und zwar über algebraische Fragen, insbesondere Invariantentheorie, Differentialinvarianten, abstrakte Mengentheorie, Differential- und Integralgleichungen. An der mathematischen Gesellschaft beteiligte ich mich durch eine Reihe von Vorträgen.

Wissenschaftliche Anregung verdanke ich wesentlich dem persönlichen mathematischen Verkehr in Erlangen und in Göttingen. Vor allem bin ich Herrn E[rnst] Fischer zu Dank verpflichtet, der mir den entscheidenden Anstoß zu der Beschäftigung mit abstrakter Algebra in arithmetischer Auffassung gab, was für all meine späteren Arbeiten bestimmend blieb und für solche nicht rein algebraischer Natur.

Meine Dissertation und eine weitere Arbeit "Zur Invariantentheorie der Formen von Variabeln" gehören noch dem Gebiet der formalen Invariantentheorie an, die mir als Schülerin Gordans nahe lag. Die große Arbeit "Körper und Systeme rationaler Funktionen" beschäftigt sich mit allgemeinen Basisfragen, erledigt, vollständig das Problem der rationallen [sic!] Darstellbarkeit und gibt Beiträge zu den übrigen Endlichkeitsfragen. Eine Anwendung dieser Resultate ist enthalten in der Arbeit "Invarianten endlicher Gruppen", die einen ganz elementaren Endlichkeitsbeweis dieser Invarianten bringt mit wirklicher Angabe der Basis. In diese Gedankenreihe gehört weiter die Arbeit "Algebraische Gleichungen mit vorgeschriebener Gruppe" die einen Beitrag zu der Konstruktion solcher Gleichungen bei beliebigem Rationalitätsbereich liefert. Für Gleichungen dritten und vierten Grades ist diese Parameterkonstruktion als Erlanger Dissertation im einzelnen durchgeführt worden von F. Seidelmann.

Die Arbeit über "Ganze rationale Darstellung von Invarianten" weißt [sic!] eine von D[avid] Hilbert ausgesprochene Vermutung als zutreffend nach und gibt zugleich einen rein begrifflichen Beweis für die Reihenentwicklungen der Invariantentheorie, der auf der Aequivalenz linearer Formenscharen beruht und teilweise Gedankengängen von E[rnst] Fischer nachgebildet ist. Diese Arbeit gab dann ihrerseits wieder E[rnst] Fischer den Anstoß zu einer größeren Arbeit über "Differentiationsprozesse der Algebra" (Crelle 148).

Zu diesen rein algebraischen Arbeiten gehören auch zwei noch unveröffentlichte: ein Endlichkeitsbeweis für die ganzzahligen binären Invarianten, über den ich in der mathematischen Gesellschaft berichtet habe, und eine gemeinsam mit W[erner] Schmeidler verfaßte Untersuchung über nicht-kommunative, einseitige Moduln, die durch eine gelegentliche Frage von E[dmund] Landau angeregt wurde. Hierher gehört auch die Beschäftigung mit Fragen der Algebra und Modultheorie modp [= modulo p; p steht für Primzahl] und mit der Frage nach der "Alternative bei nicht linearen Gleichungssystemen", über deren Resultate ich gleichfalls der mathematischen Gesellschaft berichtet habe.

Die größere Arbeit "Die allgemeinsten Bereiche aus ganzen transzendenten Zahlen" benutzt neben den algebraisch-arithmetischen Prinzipien auch solche der abstrakten Mengentheorie. Nachdem Zermelo gelungen war, überhaupt einen Bereich von ganzen transzendenten Zahlen zu konstruieren, wird hier ein Überblick über die Gesamtheit der möglichen Bereiche gegeben; und zugleich die Konstruktion der ganzen Größen auf beliebige abstrakt definierte Körper ausgedehnt. Derselben Richtung gehört die Arbeit "Funktionalgleichungen der isomorphen Abbildung" an, die die allgemeinste isomorphe Abbildung eines beliebig abstrakt definierten Körpers angibt.

Schließlich sind noch zwei Arbeiten über Differentialinvarianten und Varationsprobleme zu nennen, die dadurch mitveranlaßt sind, daß ich die Herren Klein und Hilbert bei ihrer Beschäftigung mit der Einsteinschen allgemeinen Relativitätsteorie unterstützte. Die vorläufige Note "Invarianten beliebiger Differentialausdrücke" gibt für diese Differentialausdrücke die Zurückführung der Fragen nach den allgemeinsten Invarianten gegenüber der Gruppe aller analytischen Transformationen auf eine Frage der linearen Invariantentheorie. Die zweite Arbeit "Invariante Variationsprobleme", die ich als Habilitationsschrift bezeichnet habe, beschäftigt sich mit beliebigen endlichen oder unendlichen kontinuierlichen Gruppen im Lie'schen Sinne und zieht die Folgerungen aus der Invarianz eines Variationsproblems gegenüber einer solchen Gruppe. In dem allgemeinen Resultate sind als Spezialfälle die in der Mechanik bekannten Sätze über erste Integrale, die Erhaltungssätze und die in der Relativitätsteorie aufgetretenden [sic!] Abhängigkeiten zwischen den Feldgleichungen enthalten, während andererseits auch die Umkehrung dieser Sätze gegeben wird.

Ferner möchte ich noch erwähnen, daß außer der oben genannten noch eine weitere Erlanger Dissertation von mir angeregt worden ist: "Über Verzweigung der Lösungen nichtlinearer Differentialgleichungen" von H[ans] Falckenberg. Es handelt sich dort um Dualitätsuntersuchungen im Anschluß an die Schmidtische Arbeit über nichtlineare Integralgleichungen.

gez. Dr. Noether

Lebensdaten Emmy Noethers

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