Dr. Cordula Tollmien Anna Michailowna Jewreinowa (Ewreinowa)

Anna Michailowna Jewreinowa (Ewreinowa)
(1844-1919)

Brief an Julia Lermontowa aus dem Jahr 1868

Übersetzt von Simon Panitsch und Cordula Tollmien

 

Mit diesem Brief nahm Anna Jewreinowa erstmals Kontakt mit Julia Lermontowa auf, die zwar ihre Cousine war, die sie aber bisher persönlich nicht kennengelernt hatte:

 


"Was mich veranlasst, mich an Sie zu wenden, ist mehr als eine einfache Bezugnahme auf unsere verwandtschaftliche Beziehung. Wahrscheinlich wären Sie auch gar nicht damit einverstanden, eine Beziehung zu mir aufzunehmen, ohne zu wissen und zu verstehen, worin in Wirklichkeit unsere Verwandtschaft besteht. Schon vor längerer Zeit hörte ich davon, womit sie sich beschäftigen, und davon, wie sie ihr Leben so zielgerichtet gestalten; meinerseits fühle ich sehr stark mit solchen Frauen und respektiere sie und…bin davon überzeugt, dass wir unsere vereinzelten Kräfte zusammentun sollten, also möchte ich Ihnen vorschlagen, wenn Ihr Wunsch mehr als Neugierde ist – unsere Beziehung aufgrund eines für uns äußerst wichtigen Interesses, wie eben das gewählte, vielleicht triumphierend erreichte Ziel, zu intensivieren. Ein Versuch ist keine Sünde und eine Nachfrage kein Unglück. Wenn wir uns näher kommen, ist es gut, wenn nicht, bleibt trotzdem viel Gemeinsames zwischen uns. Wie Sie sehen, Julia Wsewolodowna, ist diese Brief alles andere als ein offizieller. Wenn das, was mir über Sie zu Ohren gekommenen ist, richtig ist, dann können Sie zwischen den Zeilen eine warme Anteilnahme lesen und die Bereitschaft für eine starke und unzerstörbare Verbindung zwischen uns, die eigentlich schon existiert. Und dann kommt Ihnen der Wunsch meinerseits, Sie kennen zu lernen, nicht so seltsam vor. Doch wenn mein Urteil über Sie falsch sein sollte, dann bitte ich um Verzeihung, liebe Cousine, wenn in diesen Zeilen die süßen Ergüsse und gefühlvollen Verwandtschaftserklärungen fehlen; weder meine Zeit noch meine Überzeugungen erlauben mir, mich mit solchen Nichtigkeiten abzugeben. Übrigens, kann ich gar nicht sagen, wie schwer für mich wäre, mich von diesem Traum zu trennen, ich habe diesen Traum schon so lange geträumt, und hoffe sehr, dass es auch der Traum meiner Schwester ist. Sagen Sie ehrlich, Julia Wsewolodowna, sind wir einander nah? Haben Sie sich schon ein Urteil über mich gebildet? Es gibt so wenig Menschen mit einem vernünftigen Ziel, dass es sich in jedem Fall lohnt, uns näher miteinander bekannt zu machen. Blutsverwandte Schwestern sind das eine, aber das Schicksal oder - wenn Sie wollen - der Zufall, hat mich mich mit guten Freunden und Schwestern beschenkt, wie wir einander zu nennen pflegen. Wir alle sind beschäftigt und wären sicher glücklich, wenn wir uns nicht geirrt hätten, und Sie Ihrerseits, dieselben Gefühle für mich hätten.
Antworten Sie bitte möglichst schnell, Sie verstehen doch, mit welcher Ungeduld ich auf ein Worte über unsere gemeinsamen Träume warte.
Ich schreibe Ihnen, ohne meine Familie zu verständigen, weil ich weiß, dass ich keine Erlaubnis dafür bekommen würde. Die Briefe erhalte ich unzensiert (ohne dass meine Eltern sie lesen – Jussuf Musabekow). Für eine gewisse Zeit halte ich es für vernünftig, unsere Verhältnis geheim zu halten, weil ich ohnehin schon viel zu viele unangenehme Zusammenstöße mit meiner Familie habe."

 


Dieser Brief ist, wenn man die Hintergründe nicht kennt, fast unverständlich. Man braucht daher eine Übersetzung, um ihn zu verstehen: Das große Ziel, das Anna Jewreinowa triumphierend im Leben erreichen will, ist eine akademische Ausbildung; der Wunsch, den Julia vielleicht mit ihr teilt, der Studienwunsch, und als Schwester spricht sie Julia Lermontowa an, weil sie sie für eine "Schwester im Geiste" hält, eine Frau, die wie viele andere "Schwestern" auch das gleiche Ziel wie sie hat, und mit der sich sich deshalb zusammentun und verbünden will. Der Brief dient der Erkundung, ob stimmt, was Jewreinowa über Julia Lermontowa gehört hat, und da sie – wie sie zum Schluss andeutet – mit ihren Eltern wegen ihres Studienwunsches schon massive Schwierigkeiten hatte, schreibt sie Julia heimlich und so verklausuliert, dass Julias Eltern (von denen sie nicht weiß, wie sie zu Julias Studienwunsch stehen), wenn sie den Brief lesen, nicht verstehen, worum es geht. Wie wir wissen, war diese erste Kontaktaufnahme erfolgreich. Julia träumte den gleichen Traum wie Anna Jewreinowa, sie lernte über Jewreinowa Anna und Sofja Korwin-Krukowskaja (später Kowalewskaja) kennen und konnte schließlich mit deren Hilfe und mit Erlaubnis ihrer Eltern im Herbst 1969 nach Heidelberg reisen, um dort Chemie zu studieren. Anna Jewreinowa dagegen gelang, es nicht ihre Eltern umzustimmen, sie musste zu Fuß über die Grenze fliehen, um ihren Traum vom Studium zu verwirklichen.

 


Der Brief ist auf Russisch abgedruckt bei Musabekow, Jussuf S., Julia Wsewolodowna Lermontowa, Moskau 1967 (Мусабеков, Ю.С., Юлия Всеволодовна Лермонтова: 1846 – 1919,), S. 27 f. (leider ohne genaue Datierung); er wird aufbewahrt im Archiv der Akademie der Wissenschaften, Moskau, Fond 300. op.4 Nr. 10 (Briefe an Julia Lermontowa).

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