Cordula Tollmien Eleonore Helbach Mülheim

Ein außergewöhnliches Dokument der Menschlichkeit

Eleonore Helbach - als Dolmetscherin in Mülheimer LagernEleonore Helbach - als Dolmetscherin in Mülheimer LagernEleonore Helbach - als Dolmetscherin in Mülheimer LagernEleonore Helbach - als Dolmetscherin in Mülheimer LagernEleonore Helbach - als Dolmetscherin in Mülheimer LagernEleonore Helbach - als Dolmetscherin in Mülheimer Lagern

Geschichtsverein Mülheim an der Ruhr (Hg.): Das Zwangsarbeitersystem im Dritten Reich.

Als Dolmetscherin in Mülheimer Lagern. Die Erinnerungen von Eleonore Helbach.

Verlag an der Ruhr 2003

Außergewöhnlich sind die Erinnerungen der Eleonore Helbach, die 1903 in Rostow am Don geboren wegen ihrer Sprachkenntnisse während des Zweiten Weltkrieges in Mülheim als Dolmetscherin für russische Zwangsarbeiter dienstverpflichtet wurde, aus zwei Gründen: einmal, weil sie überhaupt existieren, und zum anderen weil sie ein Dokument schlichter und selbstverständlicher Menschlichkeit sind, das nicht nur in der NS-Zeit selten zu finden war und ist. Dabei gelang es Eleonore Helbach mit ihrer mitfühlenden und couragierten Menschlichkeit nicht nur Lagerleiter, Ärzte, die Sachbearbeiterin des Arbeitsamtes und sogar Parteileute anzustecken, sondern zum Beispiel auch die deutschen Patientinnen in einem Krankenhaus, die sich gegen die herrschenden NS-Vorschriften damit einverstanden erklärten, eine "Ostarbeiterin" in ihrem Krankenzimmer aufzunehmen. Das war - wie alle wissen, die sich speziell mit der Krankenversorgung von Zwangsarbeitern beschäftigt haben und die dabei auf die vielen Beschwerden und Denunziationen eben wegen der Zusammenlegung von "Ostarbeitern" und "deutschen Volksgenossen" gestoßen sind - keinesweg selbstverständlich.

Eleonore Helbach

Elenore Helbach:

 
Der Meister von Otterbecks Schuhfabrik lässt mich zu sich kommen. "Frau Helbach, die Wera ist schon Monate wegen ihrer Halsschmerzen in Behandlung, aber es wird nicht besser, eher schlimmer. Sie fehlt immer öfter bei der Arbeit, dazu auch noch der deutsche Begleiter zum Arzt! So geht es nicht weiter, die vielen Arbeitsstunden, die dadurch verloren gehen. Bringen Sie das Mädchen doch selbst zum Arzt und erfahren Sie, wieso es zu keiner Besserung kommt. Sonst muss sie ins Krankenlager. Auf die Dauer ist sie für uns nicht tragbar. "

Oh, dieser Schreck, fast ein Todesurteil. Sie käme von ihren Kameradinnen und auch weiter von hier weg, und von dort kam noch keiner zurück. Wenn überhaupt, hört man nichts Gutes von dort.

Also gehen wir zum Arzt. Die Art seiner oberflächlichen Untersuchung gefällt mir nicht. So frage ich kurz angebunden: "Und was fehlt ihr, Herr Doktor? Das Mädchen fehlt zu viel bei der Arbeit, klagt über Schmerzen im Hals und ihre Stimme ist heiser." "Was ihr fehlt? Die hat es von den deutschen Arbeitern inzwischen gelernt, das Krankfeiern und das Sich‑vor‑der‑Arbeit‑Drücken.

Das ist zu viel für mich. "Komm, Wera! " Ich nehme sie bei der Hand und gehe mit ihr grußlos weg. "Was jetzt, Lena Andrewna?", fragt sie beklommen. "Wir gehen zu dem anderen Arzt hier auf dem Flur." "Aber ich hab ja kein Billett!" Komm, ich regele es schon. " Als wir an die Reihe kommen, sage ich: "Guten Tag, Herr Doktor, hier bringe ich eine Ukrainerin, der Krankenschein ist bei einem anderen Arzt. Ich bezahle für die Untersuchung. Dem Mädchen muss endlich geholfen werden. Sie hatte eine so schöne Stimme und jetzt kann sie kaum sprechen. Der Arzt, der sie zuvor behandelt hat, sagt, dass sie von den deutschen Mitarbeitern das Krankfeiern abgeguckt hat."

Dr. Blesius sieht sich ihren Hals an, dann fragt er: "Welcher Kollege hat sie behandelt?" "Der Arzt hier gegenüber auf dem Flur. Dr. Blesius springt auf und läuft mit flatterndem Kittel aus der Tür. "Lena Andrewna, was haben Sie gemacht?", sagt Wera erschrocken. "Wissen Sie nicht, dass der Arzt gegenüber sein Eidam (Schwiegersohn) ist? Der deutsche Arbeiter hat es mir gesagt." Hach! Im ersten Moment verschlägt es mir den Atem. Aber dann sag ich: "Auch egal, ist doch die Wahrheit. Nach einer Weile kommt der Doktor wieder herein, sagt nichts, untersucht die Patientin nun gründlichst. "Das Mädel muss schnellstens operiert werden, die Mandeln sind total vereitert und die Nase mit Polypen belegt. Aber die Sache hat noch einen Haken, ich habe im Marien‑Hospital kein Bett für eine Ostarbeiterin frei. Wie ist es nun im Lager mit der Unterbringung und Pflege?"

"Krankenstuben gibt es da nicht. Die Mädchen schlafen in Reih und Glied in Drei‑Bett‑Etagen auf Strohsäcken. Da sie in der Mitte schläft, muss sie unwillkürlich Staub schlucken, wenn die darüber Schlafenden sich drehen. Da ich in vielen Lagern arbeite, kann ich mich nicht um sie kümmern. " Nach kurzem Nachdenken sagt der Arzt: "Wissen Sie was, gehen Sie doch zum Hospital und versuchen, ein Bett zu bekommen. Dann geben Sie mir Bescheid. Wenn Sie Erfolg haben, könnte ich dann bald operieren. "

Also gehen wir zum Hospital, das von Franziskanerinnen geführt wird. Voller Mitleid sieht die Schwester auf Wera. "Es tut mir Leid, aber ich habe kein Bett frei für Ostarbeiterinnen und nichts in absehbarer Zeit." Sie sah schwankend zwischen Mitleid und Verbot auf Wera. Dann gab sie sich einen Ruck. "Ein Bett wäre hier noch frei, aber dort liegen deutsche Frauen, wenn die einwilligen? Aber das müssen Sie selbst versuchen!" Sie deutete auf eine Tür. "Danke, vielen Dank Schwester, für den Tipp!" sage ich der eilig Davongehenden.

Angst, alle haben Angst vor den Nazis. Als ich das mir bezeichnete Zimmer betrete, sehe ich dort auch eine Nachbarin von uns liegen, eine nette, liebe Frau. Wir begrüßen uns und dann rücke ich mit meinem Anliegen heraus. Die Frauen sind alle bereit. "Aber ja, aber ja, das arme Kind, wir haben nichts dagegen. Ihr muss ja auch geholfen werden. Wir werden gut auf sie aufpassen. " "Sie ist nett, sauber und bescheiden, Sie werden es nicht bereuen, sehen Sie sie sich selbst an", sage ich und rufe Wera herein.

Neugierig schauen die Frauen auf die Eintretende. Hübsch, blond und blitzsauber steht sie da. "Komm, da ist dein Bett, hier wirst du schlafen", sagen die Frauen recht freundlich zu ihr.

Beruhigt und dankbar gehe ich zum Arzt, um Bescheid zu geben, dass ich Wera gut untergebracht habe. Sie wird bald operiert. Als sie zurückkommt, ist auch ihre Stimme wieder in Ordnung. Die guten Frauen haben sie reichlich mit Wäsche und Kleidern versorgt und ihr obendrein auch einen Koffer geschenkt.

Als ich mit ihr zur Nachuntersuchung zum Arzt komme, erzähle ich ihm, dass Wera sehr gut zeichnen und malen kann, ich aber leider kein Papier, Stifte und Farben auftreiben kann. Er verspricht mir, welche zu besorgen und tut es auch. Wera malt ihm aus lauter Dankbarkeit ein paar Bildchen und sie erzählt stolz, dass der gute Dr. Blesius diese in seiner Diele angebracht habe.

Das Buch hat durch die vielen instruktiven Zusatzinformationen, Fotos und Dokumente streckenweise fast den Charakter eines Nachschlagewerkes und ist für den Einsatz in Schulen, für den es konzipiert wurde, sicher sehr gut geeignet. Der Verlag hat in seiner Internetankündigung als Zielgruppe die Alterstufen 13 bis 99 Jahre angegeben und das völlig zu Recht. Es ist selbst für den Historiker, der sich auf die NS-Zwangsarbeit spezialisiert hat, noch ein Gewinn und dies nicht zuletzt deshalb, weil in den Erinnerungen der Eleonore Helbach ganz von selbst, man könnte fast sagen unbewusst, ein spezifisch weiblicher Blick auf die Zwangsarbeiterwirklichkeit geworfen wird, der in vielen anderen Publikationen fehlt. So kommen bei Eleonore Helbach die vom Hungertod bedrohten Säuglinge der Zwangsarbeiterinnen ebenso vor wie die sexuellen Übergriffe der Sanitäter auf die "Ostarbeiterinnen".

Als Historikerin hätte ich mir allerdings gewünscht, dass die Tatsache, dass Eleonore Helbach ihre Erinnerungen erst nach dem Kriege zu Papier brachte, nicht nur im Vorwort erwähnt, sondern auch kritisch gewürdigt worden wäre. Es spricht meiner Meinung nach einiges dafür, dass Eleonere Helbach ihre Erinnerungen bald nach dem Kriege, also relativ zeitnah geschrieben hat. Man merkt ihnen an, dass diese nach oder sogar im Kontext der Entnazifizierungsverfahren entstanden sind, in denen Eleonore Helbach zugunsten einiger der von ihr ausdrücklich lobend genannten Personen ausgesagt hat. Das bedeutet nicht, dass Zweifel an dem Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen angebracht wären, aber Einfluss auf ihre Darstellung haben diese Verfahren sicher gehabt. Zu kritisieren ist auch die Wahl des Titels: Ein "vollständiges Bild" des "Zwangsarbeitersystems im Nationalsozialismus", wie der Verlag in seiner Pressemitteilung schreibt, kann dieses Buch schon deshalb nicht vermitteln, weil es sich ausschließlich auf "OstarbeiterInnen" beschränkt.

Dennoch: Das Buch ist sehr zu empfehlen - sowohl als Einstieg für den interessierten Laien als auch als wichtige Ergänzung für den vorgebildeten Historiker.

Dazu gibt es gut aufbereitete Informations- und Arbeitsmaterialien für Schule, Jugendarbeit und politische Bildung!

 

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