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Das Stachelschwein
Auf den Straßen ist Hochwasser, weil es seit Tagen ununterbrochen geregnet hat. Und es regnet immer noch. Elly hat schon gesagt, dass sie Elisabeth am liebsten gar nicht mehr zur Schule schicken würde, weil die Kleider und vor allem die Schuhe einfach nicht mehr trocken werden.
Als Elisabeth heute aus der Schule kommt, verfeuert Elly gerade die letzten drei Kohlen und das letzte bisschen Reisig. Das ist alles, was sie noch haben. Das Zimmer wird natürlich nicht warm davon. Frau Sutterlitte opfert ihren allerletzten Holzquirl. Alle anderen sind schon im Ofen verschwunden. Doch was ist schon ein Quirl? Trübsinnig sitzen alle um den kalten Ofen und versuchen sich ein wenig an einer Tasse heißem Tee zu wärmen. Ganz mutlos gehen sie schließlich in ihre klammen Betten. Niemand weiß, woher sie morgen etwas zu heizen nehmen sollen. »Jetzt hilft nur noch ein Wunder«, sagt Elly.
Es ist kaum zu glauben, doch das erhoffte Wunder geschieht tatsächlich. Am nächsten Tag kommt jemand aus Christas Betrieb und richtet aus, dass sie sofort einen halben Festmeter Holz abholen sollen. Sogar geklaftert ist das Holz schon. Elly und Elisabeth ziehen los und transportieren das Ganze im Handwagen in den Hof. Dann sägt und hackt Großvater bis in den Abend hinein.
Als Elisabeth diesmal wieder ganz nass aus der Schule kommt, ist das Zimmer warm, und Elly sitzt da und flickt Bettücher. Sie setzt Flicken in der Mitte auf. Um dafür Stoff zu haben, schneidet sie von den Tüchern am Rand ein Stück ab. Sie hatte das schon lange vor, aber in den Tagen vorher konnte sie mit ihren klammen Fingern die Nadel nicht halten.
»Komm, setz dich zu mir«, sagt Elly zu Elisabeth. »Ich bin so unruhig. Schon den ganzen Tag ist diese Spannung in mir. Heute früh beim Holzholen ging es noch, aber jetzt am Abend, wo ich hier so sitze, lassen sich die Gedanken nicht mehr aussperren. Weißt du, morgen ist es ein Jahr her, dass Dresden bombardiert wurde und in einer Nacht und einem Tag alles, was ich an dieser Stadt liebte, zerstört wurde.«
Sie macht eine Pause.
»Es war der Faschingsdienstag«, sagt sie dann, »dieser 13. Februar vor einem Jahr. Die Kinder auf der Straße hatten sich ein bisschen verkleidet. Sehr fröhlich war es nicht, wegen des Krieges, aber man ahnte doch trotzdem nichts von dem, was kommen würde. Ja, und dann ... « Elly kneift die Augen ein wenig zusammen und sieht über Elisabeth hinweg. »Alles, was damals geschah, jede Sekunde, steht ganz klar vor meinem geistigen Auge.«
Elly beugt sich über ihr Bettuch, doch dann sieht sie wieder auf und Elisabeth direkt ins Gesicht. »Ich kann immer noch nicht weinen«, sagt sie. »Ich kann über all das, was damals geschehen ist, immer noch nicht weinen.« Sie sieht ganz hilflos und viel kleiner aus als sonst.
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