Dr. Cordula Tollmien Emmy Noether Lebensdaten

Emmy Noether (1882-1935)

Dieser Lebensabriss wurde zusammengestellt für einen Vortrag, den die Autorin am 13. Juni 2006 am Mathematischen Institut der Universität Göttingen gehalten hat.

Quellen sind im Einzelnen nur angegeben, wenn diese nicht in der 1990 erschienenen Biographie von Cordula Tollmien über Emmy Noether, zu finden sind.

Folgende mir damals noch nicht vorliegende Literatur wurde mit herangezogen (in chronologischer Reihenfolge):

  • Colin R. Fletcher, Refugee Mathematicians: A German Crisis and a British Response, 1933-1936, Historia Mathematica 13 (1986) S. 13-27, insb. S. 15f.
  • Mitgliedergesamtverzeichnis der Deutschen Mathematiker-Vereinigung 1890-1990 (hg. von Michale Toepell), München 1991.
  • Karl-Heinz Schlote, Fritz Noether - Opfer zweier Diktaturen. Tod und Rehabilitierung, in: NTM 28 (1991), S. 33-41.
  • Claudia Huerkamp, Jüdische Akademikerinnen in Deutschland 1900-1938, in: Geschichte und Gesellschaft 19 (1993) 3, S. 311-331, insb. S. 312, S. 314, S. 316.
  • Gertraud Lehmann, 90 Jahre Frauenstudium in Erlangen, in: Die Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg 1743-1993. Geschichte einer deutschen Hochschule, Katalog zur Ausstellung 21.10.1993-27.2.1994, Stadtmuseum Erlangen 1993, S. 487-512.
  • Reinhard Siegmund-Schultze, Mathematiker auf der Flucht vor Hitler. Quellen und Studien zur Emigration einer Wissenschaft, Deutsche Mathematiker-Vereinigung Doumente zur Geschichte der Mathematik Band 10, Braunschweig/Wiesbaden 1998.
  • Ernst Peter Fischer, Leonardo, Heisenberg & Co. Eine kleine Geschichte der Wissenschaft in Porträts, München Zürich 2000/2002.
  • Renate Tobies und Mechthild Koreuber, Emmy Noether - Begründerin einer mathematischen Schule, in: DMV-Mitteilungen 3 (2002, S. 8-21.)
  • Renate Tobies, Briefe Emmy Noethers an P.S. Alexandroff, in: NTM N.S. 11 (2003) 2, S. 100-115.
  • Renate Tobies, Emmy Noether - "Meine Herren, eine Universität ist doch keine Badeanstalt", in: Spektrum der Wissenschaft August 2004, S. 70-77.

    Neben dem Einfluss ihres Vaters, der in der biographischen Literatur zu Emmy Noether unstrittig ist, scheint mir bisher, die Bedeutung der engen Beziehung, die zwischen Emmy Noether und ihrem zwei Jahre jüngeren Bruder Fritz Noether bestand, für die Bewertung von Emmy Noethers Lebensweg zu wenig Berücksichtigung gefunden zu haben: Beide machten gleichzeitig Abitur, begannen zum gleichen Zeitpunkt ihr Studium in Erlangen und teilten die gleichen politischen Ansichten. Auch der Vergleich ihrer unterschiedlichen akademischen Karrieren ist interessant. In Emmy Noethers Lebensdaten wurden daher, wo mir dies bedeutsam erschien, auch die Daten ihres Bruders mit aufgenommen.

    Lebensdaten

    (Amalie) Emmy Noether, geb. am 23. März 1882 in Erlangen, als Tochter des Mathematikprofessors Max Noether (24.9.1844 – 13.12.1921) und seiner Frau Ida, geb. Kaufmann (13.6.1852 – 9.5.1915). Emmy Noether hatte drei jüngere Brüder Alfred (28.3.1883 – 13.12.1918), Fritz (7.10.1884 – 10.9.1941) und Robert (15.11.1889 – 4.6.1928).

    Von 1889 bis 1897 besuchte Emmy Noether die Städtische Höhere Töchterschule in Erlangen (heute Marie-Therese-Gymnasium), in der ihr damals allerdings nicht viel mehr als eine elementare Grundausbildung vermittelt wurde, die nicht über das hinausging, was man heute in den ersten Schuljahren des Gymnasiums lernt.

    Nach der Schulzeit vertiefte Emmy Noether ihre Kenntnisse in Französisch und Englisch und nahm auch privaten Mathematikunterricht beim einem Lehrer des humanistischen Gymnasiums in Erlangen und einem weiteren Lehrer in Stuttgart [die Beziehungen Emmy Noethers oder ihrer Familie zu Stuttgart konnten bisher noch nicht geklärt werden]. Im April 1900 legte sie in Ansbach die Bayrischen Staatsprüfungen für Lehrerinnen in Französisch und Englisch ab. Damit war sie berechtigt an "weiblichen Erziehungs- und Unterrichtsanstalten", d.h. in den Elementarklassen der Mädchenschulen, die neueren Fremdsprachen zu unterrichten. Sie stellte stattdessen aber im Oktober 1900 einen Antrag auf Zulassung als Gasthörerin sowohl der mathematisch-physikalischen als auch von neuphilologischen Vorlesungen an den Prorektor der Universität Erlangen.

    Antrag von Emmy Noether auf Zulassung als Gasthörerin vom 2. Oktober 1900

    Eine Frau konnte zu diesem Zeitpunkt zwar noch nicht als reguläre Studentin, wohl aber als "Hörerin ohne Rechte auf Prüfungen" zugelassen werden, musste dazu aber sowohl die Genehmigung der Universitätsleitung (des Prorektors) als auch des Ministeriums und jedes einzelnen Professors, bei dem sie Vorlesungen hören wollte, einholen. Gerade rechtzeitig hatte die bayrische Staatsregierung am 28. März 1900 verordnet, dass die von Emmy Noether abgelegte Lehrerinnenprüfung eine ausreichende Vorbildung für den Besuch von Vorlesungen darstellte.

    Foto von Emmy Noether um 1900

    Ab WS 1900/1901 bis SS 1903 hörte Emmy Noether als "Gasthörerin" an der Universität Erlangen Vorlesungen in Mathematik, Romanistik und Geschichte (sie war dabei eine von zwei Hörerinnen unter 984 männlichen Studenten) und bereitete sich so auf die Reifeprüfung vor, die sie am 14. Juli 1903 am königlichen Realgymnasium in Nürnberg (heute Willstätter-Gymnasium) als Externe ablegte.

    Ihr zwei Jahre jüngerer Bruder Fritz Noether, der später ebenfalls Mathematiker wurde, machte im gleichen Monat ebenfalls Abitur und zwar am Humanistischen Gymnasium in Erlangen (Lebenslauf in: Fritz Noether, Über Rollende Bewegung einer Kugel auf Rotationsflächen, Dissertation Leipzig 1909).

    Da Emmy Noether schon vor dem Studium Privatunterricht beim einem Lehrer dieses Gymnasium gehabt hatte und im übrigen auch in ihrem späteren Leben sehr eng mit Fritz verbunden war, ist anzunehmen, dass sich beide gemeinsam auf das Abitur vorbereitet haben. Sie konnte allerdings, da sie keine humanistische Vorbildung hatte, dass Abitur nicht an derselben Schule wie ihr Bruder ablegen, sondern nur an einem Realgymnasium.
    Emmy Noether war nach ihrer Abiturprüfung eine der wenigen Frauen ihrer Zeit, die eine den Männern völlig gleichwertige Studienqualifikation besaß. Dies stellte sich kurze Zeit später dann auch als notwendig heraus. Denn mit Entschließung vom 21. September 1903 ließ Bayern Frauen mit Abitur an den drei Landesuniversitäten als reguläre Studentinnen zu, zugleich schränkte das Ministerium aber die Zulassung von Frauen ohne Abitur als Hörerinnen drastisch ein. Das betraf insbesondere, die Sprachlehrerinnen, deren Vorbildung man nun als völlig unzureichend wertete. Es ist kaum anzunehmen, dass Emmy Noether diese Entwicklung vorausgeahnt hat. Sie hat aber wahrscheinlich gewusst, dass in Baden, wohin sie über ihren Vater, der in Mannheim geboren und bis April 1875 in Heidelberg gelehrt hatte (Familienblatt Max Noether, Abschrift im Stadtarchiv Erlangen), Beziehungen hatte, Frauen schon 1900 regulär studieren konnten. Sie wird daher ihre Abiturprüfung ganz gezielt abgelegt haben, um – wo auch immer - ein reguläres Studium aufzunehmen.

    Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass wegen der notwendigen Umwege über Privatlehrer und Lehrerinnenprüfung die Ausbildung von Töchtern verglichen mit der von Söhnen nicht nur länger dauerte, sondern für die betroffenen Familien auch teurer waren. Zwar musste auch für die Jungenschulen damals noch Schulgeld gezahlt werden, insofern war es gewöhnlich, dass auch Schulausbildung den Familien direkt Kosten verursachte, aber beispielsweise die Privatlehrer für die Mädchen mussten ja zusätzlich bezahlt werden. Emmy Noether war nicht das einzige Kind der Familie Noether, Max Noether hätte sich also bei der Ausbildung seiner Kinder auf seine Söhne konzentrieren können. Es scheint aber in der Familie Noether nie strittig gewesen zu sein, dass auch Emmy Noether als Tochter eine den Söhnen gleichwertige Ausbildung erhielt. Allerdings war die Familie wohlhabend und zumindest die finanzielle Seite der Ausbildung daher kein Problem. Vor allem aber die idelle Unterstützung ihres Vaters war dabei nach allem was wir aus vergleichbaren Frauenbiographien wissen, von nicht zu unterschätzender Bedeutung, wobei die Bereitschaft, auch den Töchtern eine qualifizierte Ausbildung zukommen zu lassen, in den jüdischen Familien offensichtlich größer war als in den nichtjüdischen. Einstein sprach in seinem Nachruf auf Emmy Noether von der „Liebe zum Lernen“, die die jüdische Familie ausgezeichnet habe. Tatsächlich läßt sich gerade in den assimilierten jüdischen Familien des Kaiserreichs eine besondere Hochschätzung von Wissen ausmachen und eine vergleichsweise große Bereitschaft, auch ihren Töchtern eine qualifizierte Ausbildung zuteil werden zu lassen. Dies zeigen auch die Studentinnenzahlen: Der Anteil der Studentinnen jüdischer Konfession an der Gesamtzahl der studierenden Frauen war beispielsweise 1911/12 mehr als zehnmal so groß wie der jüdische Bevölkerungsanteil im Deutschen Reich insgesamt. Zu diesem spezifischen innerjüdischen, die Mädchen unterstützenden Milieu kamen allerdings auch äußere Zwänge. So stand den jüdischen Frauen der klassische erste höherqualifizierte Frauenberuf, nämlich der der Lehrerin, nicht offen. Denn auch die staatlichen Schulen in Preußen galten entweder als katholisch oder als evangelisch und stellten nur Lehrerinnen des entsprechenden Bekenntnisses ein. So bildeten sich die jüdischen Frauen - so wie Emmy Noether auch - eben weiter, obwohl die meisten ihrer Geschlechtsgenossinnen Ärztinnen oder Rechtsanwältinnen wurden und nicht Mathematikerinnen.

    Nach dem Abitur hätte Emmy Noether sofort in Erlangen regulär studieren können. Sie ging stattdessen aber zum WS 1903/1904 in das preußische Göttingen, wo sie zwar wieder nur als Gasthörerin zugelassen wurde, sich dafür aber mitten berühmten internationalen Zentrum der Mathematik befand, das wesentlich von dem alten Kollegen und Freund ihres Vaters, Felix Klein, mitgestaltet worden war. Sie hörte bei Felix Klein, David Hilbert, Hermann Minkowski, Otto Blumenthal und Karl Schwarzschild.

    Im Frühjahr 1904 kehrte Emmy Noether – wahrscheinlich den vielfältigen neuen Eindrücken und den eigenen Erwartungen nicht gewachsen – krank nach Erlangen zurück, wo sie sich bis zum Herbst 1904 erholen musste.

    Erst zum WS 1904/1905 nahm sie ihr Studium in Erlangen wieder auf (als einzige Frau unter insgesamt 47 Mathematikstudenten).

    Auch Fritz Noether, der nach dem Abitur erst seinen Militärdienst absolvieren musste, begann zum gleichen Zeitpunkt ein Mathematikstudium in Erlangen. Beide Kinder hörten auch Vorlesungen bei ihrem Vater. Fritz setzte sein Studium ab SS 1907 an der Universität München fort.

    Emmy Noether promovierte nach nur sechs Semestern in Erlangen, am 13. Dezember 1907 bei Paul Gordan mit einer Arbeit aus dem Gebiet der Invariantentheorie "summa cum laude". Emmy Noether war nicht die einzige Doktorandin von Paul Gordan, wie häufig behauptet wird, aber doch immerhin eine von insgesamt nur zweien.

    1907/1908: Emmy Noether, Über die Bildung des Formensystems der ternären biquadratischen Form, Dissertation Erlangen 1907, Druck Berlin 1908. Die Arbeit erschien zugleich auch in einer wissenschaftlichen Zeitschrift, was damals nur bei außergewöhnlich guten Arbeiten üblich. Dies ging auch nicht etwa auf väterliche Protektion zurück, denn ihr Vater gehörte zwar der Redaktion der Mathematischen Annalen an, die Arbeit erschien aber im: Journal für die reine und angewandte Mathematik (Crelle's Journal) 134 (1908), S. 23-90. Emmy Noether selbst bezeichnete diese Arbeit, die mit 331 explizit angegebenen Invarianten endete, später als "Mist, "Rechnerei" und "Formelgestrüpp".

    Studiengang in Göttingen und Erlangen in dem Promotionslebenslauf von 1907.

     

    Von 1908 bis 1915 arbeitete Emmy Noether ohne Anstellung und Vertrag am Mathematischen Institut in Erlangen. Sie unterstützte dabei sowohl ihren alternden Vater als auch die beiden Nachfolger Gordans, der 1910 emeritiert worden war: zunächst Erhard Schmid, der nur ein Jahr in Erlangen blieb, und dann Ernst Fischer, der Emmy Noether ihrer eigenen Einschätzung nach den entscheidenden Anstoß zu ihrer Beschäftigung mit abstrakter Algebra gab, sie also mit der Hilbertschen mathematischen Denkweise vertraut machte.

    In ihrem Lebenslauf zur Habilitation 1919 beschreibt sie diese gemeinsame Arbeit

    Emmy Noether und Ernst Fischer

    Durch ihren Vater in die Gemeinschaft der Mathematiker eingeführt, wurde Emmy Noether 1908 Mitglied im Circolo matematico di Palermo, der 1884 gegründeten ältesteten mathematischen Gesellschaft Italiens, die die renomierte Fachzeitschrift Rendiconti del Circolo Matematico di Palermo herausgibt.

    1909 wurde sie dann auch Mitglied der 1890 gegründeten Deutschen Mathematiker-Vereinigung (DMV) (ihr Vater war Mitglied seit 1891, ihr Bruder Fritz erst seit 1911) . Auf deren alljährlichen Mitgliederversammlung erhielten insbesondere junge Mathematiker Gelegenheit ihre Forschungsergebnisse zu präsentieren. Schon auf der Jahresversammlung der DMV in Salzburg 1909 hielt Emmy Noether ihren ersten DMV Vortrag. Sie war damit die erste Frau, die einen Vortrag vor der DMV hielt. Bis 1929 trug sie insgeamt neunmal auf DMV-Versammlungen vor. Emmy Noether schätzte den Austausch mit den anderen Mathematikern, den ihr diese Versammlungen boten, und sie nahm auch gern an den sog. Nachsitzungen teil, wo sie Gelegenheit hatte mit anderen Mathematikern "Mathematik zu reden". In den ersten Jahren war sie dabei die einzige aktive Frau, die anderen Damen traten nur als Gattinen von Mathematikern in Erscheinung.

    1910: Emmy Noether, Zur Invariantentheorie der Formen von n Variabeln, Jahresberichte der Deutschen Mathematiker Vereinigung 19 (1910), S. 101-104; ausgearbeitet in: Journal für die reine und angewandte Mathematik 139 (1911), S. 118-154. Dies war der noch der formalen Invariantentheorie verhaftete Vortrag, den Emmy Noether 1909 in Salzburg gehalten hatte.

    1909 promovierte Fritz Noether in München bei Aurel Voß (Zweitgutachter war Arnold Sommerfeld) summa cum laude (Über Rollende Bewegung einer Kugel auf Rotationsflächen, Leipzip 1909). 1910/11 war er für ein Semester in Göttingen, wo er offensichtlich auch eng mit Klein zusammarbeitete. Denn der letzte Band des vierbändigen Werkes Über die Theorie des Kreisels von Felix Klein und Arnold Sommerfeld, der 1910 erschien und die technischen Anwendungen der Kreiseltheorie behandelt, ist stark von Noether geprägt. 1911 ging er an die TH Karlsruhe, wo er sich 1911 mit einer Arbeit Über den Gültigkeitsbereich der Stokesschen Widerstandsformel habilitierte. 1911 trat auch Fritz Noether in die DMV ein.

    1913 hielt Emmy Noether auf der Jahresversammlung der DMV in Wien ihren zweiten DMV-Vortrag, und zwar über Rationale Funktionenkörper.

    1913 bis 1916: Emmy Noether, Rationale Funktionenkörper, Jahresberichte der Deutschen Mathematiker Vereinigung 22 (1913), S. 316-319, ausgearbeitet in: Körper und Systeme rationaler Funktionen, Mathematische Annalen 76 (1915), S. 161-191 (abgeschlossen im Mai 1914). Der Vortrag in Wien, in dem sie explizit angab, dass die darin behandelten Fragestellungen auf Ernst Fischer zurückgingen, ließ bereits deutlich erkennen, dass Emmy Noether inzwischen in die maßgeblich von Hilbert initierte abstrakte Algebra in arithmetischer Auffassung eingedrungen war. Die ausgearbeitete 1915 erschienene Fassung war Emmy Noethers erster mathematischer Beitrag für die berühmten Mathematischen Annalen und wurde von Hilbert als Habilitationsschrift empfohlen. 1916 veröffentlichte sie noch eine Ergänzung zu dieser Arbeit: Emmy Noether, Der Endlichkeitssatz der Invarianten endlicher Gruppen, Mathematische Annalen 77 (1916), S. 89-92 (abgeschlossen Mai 1915).

     

    1913/1914 intensivierte Emmy Noether ihren wissenschaftlichen und persönlichen Kontakt nach Göttingen. 1913 war sie gemeinsam mit ihrem Vater für längere Zeit in Göttingen und verfasste in dieser Zeit gemeinsam mit Felix Klein einen Nachruf auf ihren Doktorvater Gordan. Mit Hilbert korrespondierte sie 1914 von Erlangen aus wegen der Veröffentlichung ihrer oben genannten Arbeit in den Mathematischen Annalen, machte – ohne dazu aufgefordert zu sein – ausführliche Anmerkungen zu einer wissenschaftlichen Note Hilberts, die dieser eigentlich ihrem Vater zugeschickt hatte, und kündigte eine weitere Arbeit für die Annalen an.

    Hilbert und Klein waren damals beide gerade intensiv mit der Einsteinschen Relativitätsteorie beschäftigt und erhofften sich in diesem Zusammenhang von Emmy Noethers Kenntnissen in der Invariantentheorie profitieren zu können. Sie luden Emmy Noether deshalb ein, nach Göttingen zu kommen, was sie Ende April 1915 auch tat. Die Zusammenarbeit gestaltete sich für alle Beteiligten so positiv, dass Emmy Noether ganz in Göttingen blieb. Am 9. Mai 1915 starb allerdings überraschend ihre Mutter und Emmy Noether kehrte vorübergehend nach Erlangen zurück. In den folgenden Jahren reiste sie dann häufig zwischen Erlangen und Göttingen hin und her. Sie betreute in Erlangen auch noch einen Doktoranden ihres Vaters und stellte dort eine eigene mathematische Arbeiten (Funktionalgleichungen der isomorphen Abbildung) fertig.

    1914: Max Noether mit Unterstützung von Felix Klein und Emmy Noether, Paul Gordan (Nachruf), in: Mathematische Annalen 75 (1914), S. 1-14.

    1915/1916: Emmy Noether, Über ganze rationale Darstellung der Invarianten eines Systems von beliebig vielen Grundformen, Mathematische Annalen 77 (1916), S. 93-102 (abgeschlossen 5. Januar 1915). Dies ist der Beweis der oben erwähnten Hilbertschen Vermutung.

    1915/1916: Emmy Noether, Die allgemeinsten Bereiche aus ganzen transzendenten Zahlen, Mathematische Annalen 77 (1916), S. 103-128 (abgeschlossen 30. März 1915). Das ist das von Emmy Noether angekündigte Manuskript, das sie unmittelbar vor ihrer Reise nach Göttingen abschloss.

    1915/1916: Emmy Noether, Die Funktionalgleichungen der isomorphen Abbildung, Mathematische Annalen 77 (1916), S. 536-545 (abschlossen 30. Oktober 1915 in Erlangen).

    1916/1918: Emmy Noether, Gleichungen mit vorgeschriebener Gruppe, Mathematische Annalen 78 (1918), S. 221-229 (abgeschlossen Juli 1916). Diese Arbeit führte zur Dissertation von Fritz Seidelmann.

    Emmy Noether zu diesen Arbeiten in ihrem Habilitationslebenslauf von 1919

    Foto von Emmy Noether um 1915

    Auf Anregung von Klein und Hilbert stellte Emmy Noether schon im Juli 1915 einen Antrag auf Habilitation. Da das Ministerium für geistliche und Unterrichtsangelegenheiten nach einer 1907 durchgeführten Umfrage unter den Universitätsprofessoren mit Erlass vom 29. Mai 1908 festgelegt hatte, dass Frauen an preußischen Universitäten nicht habilitiert werden können, brauchte das Habilitationsverfahren Emmy Noethers insgeamt drei Anläufe und zog sich bis zum Mai 1919 hin. Der Verfahrensgang im einzelnen:

    1. Versuch:

  • 13. Juli 1915: Emmy Noether hielt vor der Göttinger Mathematischen Gesellschaft einen Vortrag über Endlichkeitsfragen der Invariantentheorie (entsprach vielleicht inhaltlich dem 1916 unter dem Titel "Der Endlichkeitssatz der Invarianten endlicher Gruppen" in den Mathematischen Annalen veröffentlichten Manuskript, das sie im Mai 1915 abgeschlossen hatte, siehe oben), der die Göttinger Mathematiker von der Qualität ihrer Arbeit überzeugte.
  • 20.7.1915: Habilitationsantrag Emmy Noethers bei der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Abteilung der Philosophischen Fakultät der Universität Göttingen. Als Habilitationsarbeit reichte sie die bereits ein Jahr zuvor fertiggestellte Arbeit "Körper und Systeme rationaler Funktionen" ein (siehe oben).
  • 21.7.1915: Vorbereitende Sitzung der Math.-nat. Abteilung, in der die Habilitationskomission gewählt wurde. Abweichend von dem üblichen Verfahren, nachdem Habilitationsfragen allein in der Entscheidung der jeweiligen Abteilung lagen, berief man auch den Vorsitzenden der Historisch-philologischen Abteilung in die Komission, der von da an informationshalber an den Sitzungen teilnahm.
  • 21.7.1915 bis 8.8.1915: Gutachten über Emmy Noethers Habilitationsarbeit von David Hilbert (ohne Datum), Felix Klein (28.7.1915), Edmund Landau (1.8.1915), Constantin Carathéodory (1.8.1915), Carl Runge (2.8.1915), Peter Debey (3.8.1915), Johannes Hartmann (5.8.1915), Woldemar Voigt (8.8.1915).

    Nur Hartmann sprach sich dezidiert gegen die Habilitation von Emmy Noether aus, doch auch alle anderen Gutachter, obwohl prinzipiell befürwortend hatten deutliche Vorbehalte und waren nur aufgrund Emmy Noethers überragenden mathematischen Leistungen bereit, diese in diesem einem Ausnahmefall hintanzustellen. Selbst Klein, der Beförderer des Frauenstudiums in Göttingen, war unerwarteterweise gegen eine generelle Habilitationgenehmigung für Frauen. Hilbert war der einzige, der Emmy Noether nicht zur einzigartigen Ausnahmeerscheinung machte und sie auch nicht, wie Voigt es in seinem Gutachten tat, zum Testfall erklärte, dessen Ausgang für die Entscheidung der generellen Frage wichtig sei, sondern einfach nur ihre mathematischen Fähigkeiten begutachtete und ihre Forschungen und Ergebnisse in den Zusammenhang seiner eigenen Arbeiten einordnete.

    Zitate aus den Gutachten mit Interpretation

    Klein brachte in seinem Gutachten erstmals den Erlass vom 29. Mai 1908 ins Spiel und vertrat die Auffassung, dass man beim Ministerium um Dispens von diesem Erlass bitten müsse.

  • 29.10.1915: Sitzung der Habilitationskomission, in der alle Mitglieder bis auf Johannes Hartmann die Bewilligung dieses Dispenses wünschten.
  • 6.11.1915: Sitzung der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Abteilung: 10 Abteilungsmitglieder sprachen sich dafür aus, den Minister um Dispens von dem Erlass des 29.5.1908 zu bitten, 7 dagegen und 2 enthielten sich. Sowohl die in der Abstimmungen unterlegenen Gegner des Dispensantrages als auch die beiden Abteilungsmitglieder, die sich der Stimme enthalten hatten, kündigten ein Seperatvotum bzw. eine schriftliche Begründung ihres Abstimmungsverhaltens an.
  • 10.11.1915: Sitzung der Historisch-philologischen Abteilung, die "in Anbetracht der prinzipiellen Bedeutung des vorliegenden Falles, der ein völliges Novum von größter Tragweite für das deutsche Universitätsleben schaffen würde", eine Verhandlung vor der Gesamtfakultät wünschte. Die Abteilung wies dabei darauf hin, dass ihr bewusst sei, dass die einzelnen Abteilungen eigentlich selbständig über Habilitationen entscheiden konnten, dass aber auch von Mitgliedern der Math.-nat. Abteilung der Wunsch nach Einbeziehung der gesamten Fakultät laut geworden sei.
  • 18.11.1915: Sitzung der Gesamtfakultät, in der es zu scharfen Auseinandersetzungen kam. Es fanden zwei Abstimmungen statt. Zuerst wurde gefragt, "wer unter allen Umständen gegen die Zulassung einer Frau zur Habilitation ist". Das Abstimmungsergebnis betrug 17 zu 14 Stimmen (bei einer Enthaltung). Dann wurde aber erstaunlicherweise noch abgestimmt, ob man dem Ministerium empfehlen solle, den Dispensantrag der Math.-nat. Abteilung abzulehnen. Das Abstimmungsergebnis betrug 14 gegen 14 Stimmen, was aber, da Edmund Landau als Dekan gegen den Antrag gestimmt hatte, eine Ablehnung einer solchen Empfehlung bedeutete.
  • 18.11.1915: Die Historisch-philologische Abteilung beschloss, keine weiteren Schritte gegen die Habilitation von Emmy Noether zu unternehmen.
  • 18.11.1915: Die Math.-nat. Abteilung beschloss den endgültigen Text des Dispensantrages, der von Landau, Klein, Hilbert, Caratheodory und Runge formuliert worden war. Der Entwurf wurde mit 10 gegen 6 Stimmen genehmigt.
  • 26.11.1915: Antrag der Math.-nat. Abteilung beim Ministerium auf Dispens vom Erlass vom 29.5.1908 für Emmy Noether.
  • 4.12.1915: Schreiben Hilberts an den Minister, in dem er vorsichtshalber um eine persönliche Aussprache in der Sache Habilitation Emmy Noether bat.
  • 9.12.1915: Weiterleitung des Dispensantrages an den Minister durch den Kurator Ernst Osterath, der seinerseits den Antrag noch mit einem ablehnenden Kommentar versah. Der Kurator formulierte also die ablehnende Empfehlung an den Minister, gegen die sich die Gesamtfakultät zwar nur sehr knapp, aber formal eindeutig, am 18.11.1915 ausgesprochen hatte.
  • ohne genaues Datum, wahrscheinlich 1916: Persönliches Gespräch von Hilbert, im Beisein von Debey und Voigt, beim Minister, in dem ausgehandelt wurde, dass "gegen andere Wege, Frl. Noethers Mitarbeit zu ermöglichen, keine Bedenken erhoben werden würden." Dieser andere Weg war der Kompromiss, dass Emmy Noether, wenn schon nicht habilitiert, dann doch wenigstens an der Universität Göttingen lehren konnte und zwar, indem sie ihre Seminar unter dem Namen Hilberts abhielt. Für das WS 1916/17 wurde im Vorlesungsverzeichnis angekündigt: "Mathematisch-physikalisches Seminar, Invariantentheorie: Prof. Hilbert mit Unterstützung von Frl. Dr. Nöther, Montag 4-6 Uhr, gratis." Ein entsprechender Zusatz findet sich bis zum SS 1919 bei allen Übungen und Vorträgen, die Hilbert im Mathematisch-Physikalischen Seminar anbot.

    2. Versuch:

  • 17.6.1917: Schreiben der Math.-nat. Abteilung an das Ministerium: Die erst 1914 gegründete Universität Frankfurt habe Emmy Noether aufgefordert sich zu habilitieren, und Göttingen wolle Emmy Noether auf keinen Fall verlieren und beanspruche daher das gleiche Recht wie Frankfurt auf die Habilitation von "Frl. Noether".
  • 20.6.1917: Antwort des Ministeriums, in der leicht süffisant darauf verwiesen wird, dass auch Frankfurt als preußische Universität kein Recht habe, Frauen zu habilitieren: "Sie werden also Fräulein Noether jedenfalls nicht als Privatdozentin an die Universität Frankfurt verlieren."
  • 5.11.1917: Zwei Jahre nach dem Dispensantrag der Math.-nat. Abteilung vom 26.11.1915 und mit Bezug auf Hilberts Schreiben vom 4.12.1915 erfolgt ohne einen erkennbaren neuen Anlass und ohne die Angabe eines Grundes für die späte Entscheidung, die endgültige Ablehnung des Ministeriums: "Da die Frage nur grundsätzlich entschieden werden kann, vermag ich auch die Zulassung von Ausnahmen nicht zu genehmigen, selbst wenn im Einzelfall dadurch gewisse Härten unvermeidbar sind."

    3. Versuch, diesmal erfolgreich:

  • 27.12.1918: Schreiben Albert Einsteins an Klein: "Beim Empfang der neuen Arbeit von Frl. Noether empfinde ich es wieder als grosse Ungerechtigkeit, dass man ihr die venia legendi vorenthält."

    Einstein an Klein 18. Dezember 1918

  • 5.1.1919: Anfrage Kleins beim Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, wie sich das Ministerium zu einem Habilitationsantrag von Emmy Noether stellen würde.
  • 18.1.1919: Erneuter Habilitationsantrag von Emmy Noether
  • 31.1.1919: Beschluss der Math.-nat. Abteilung, einen erneuten Antrag auf Habilitation von Emmy Noether beim Ministerium zu stellen
  • 15.2.1919: Antrag der Math.-nat. Abteilung beim Ministerium auf Habilitation von Emmy Noether. Beantragt wird wieder eine Ausnahmegenehmigung, da der Erlass vom 29.5.1908 formal noch galt.
  • 8.5.1919: Mitteilung des Ministeriums, dass es keine Einwände gegen die Habilitation von Emmy Noether erhebe. Das Schreiben ging am 11.5.1919 in Göttingen ein.
  • 13.5.1919/21.5.1918: Benachrichtigung der Fakultät und der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Abteilung
  • 28.5.1919: Habilitationskolloquium von Emmy Noether. Als Habilitationsschrift war ihre Arbeit über "Invariante Variationsprobleme" anerkannt worden.
  • 4.6.1919: Öffentliche Sitzung der Math.-nat. Abteilung mit Probevorlesung von Emmy Noether über "Fragen der Modulntheorie". Danach beschloss die Abteilung einstimmig, Emmy Noether als Privatdozentin zuzulassen.

    25.1.1918: Emmy Noether, Invarianten beliebiger Differentialausdrücke, Nachrichten der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Mathematisch-physikalische Klasse (1918), S. 38-44 (vorgelegt durch Felix Klein).

    26.7.1918: Emmy Noether, Invariante Variationsprobleme, Nachrichten der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Mathematisch-physikalische Klasse (1918), S. 235-257 (vorgelegt durch Felix Klein, endgültige Fassung September 1918). Das war die Arbeit die Klein Einstein zugeschickt hatte und das wurde gleichzeitig ihre Habilitationsarbeit. Sie enthält die beiden heute berühmten Noether-Theoreme. Als Folgerung aus ihren Sätzen konnte Emmy Noether eine Vermutung Hilberts über das Versagen "eigentlicher Energiesätze" in der Allgemeinen Relativitätstheorie beweisen.

    27.3.1919: Emmy Noether, Die Endlichkeit des Systems der ganzzahligen Invarianten binärer Formen, Nachrichten der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Mathematisch-physikalische Klasse (1919), S. 138-156.

    Emmy Noether zu ihrer Habilitationsarbeit in ihrem Habilitationslebenslauf von 1919

    In ihrer Habilitationsarbeit bewies Emmy Noether u.a., dass – physikalisch ausgedrückt - zu jeder kontinuierlichen Symmetrie (Invarianz) eines physikalischen Systems eine Erhaltungsgröße existiert und umgekehrt (das ist das erste Noether-Theorem). Konkret: Der Satz von der Erhaltung der Energie, der als markanter Eckstein die Physik des 19. Jahrhunderts bestimmt hat, lässt sich mit dem Noether-Theorem als Folge einer Symmetrie, als Resultat der Homogenität der Zeit ableiten, der Impulserhaltungssatz als Folge der Homogenität des Raumes und der Drehimpulerhaltungssatz als Ergebnis der Invarianz von Eigenschaften gegenüber beliebigen Drehungen, der Isotropie des Raumes.

    Diese frühen Arbeiten Emmy Noethers aus dem Bereich der Invariantentheorie sind noch vor ein bis zwei Jahrzehnten gegenüber ihrem Beitrag zur "Modernen Algebra" in der Regel als weniger wichtig angesehen worden. Inzwischen wird vor allem in den populären Biographien von Emmy Noether häufig sogar der Schwerpunkt auf diese von ihr bewiesene wechselseite Bedingtheit von Invarianz und Konstanz gelegt. Der Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer schrieb in seiner "kleinen Geschichte der Wissenschaft in Portraits", die 2000 unter dem Titel "Leonardo, Heisenberg & Co" erschien, dazu fast enthusiastisch, Emmy Noether habe mit ihrem Theorem einer der "schönsten Verbindungen sichtbar gemacht, die zwischen der wahrnehmbaren Welt und ihrer wissenschaftlichen Beschreibung" bestehe (S. 136).

    Foto von Emmy Noether mit ihren Brüdern vor 1918

    Es waren fast vier Jahre nach Emmy Noethers ersten Antrag auf Habilitation vergangen, ehe sie im Juni 1919 endlich habilitiert war. Sie war inzwischen 37 Jahre alt.

    Ihr Bruder Fritz Noether war zu diesem Zeitpunkt bereits seit acht Jahren habilitiert. 1918 wurde er zum etatmäßigen a.o. Professor an der TH Karlsruhe ernannt. Das war zwar auch eine relativ lange Privatdozentenzeit, erklärte sich aber daraus, dass Fritz Noether als Soldat am Ersten Weltkrieg hatte teilnehmen müssen.

    Auch in den Jahren nach 1918 entfaltete Emmy Noether eine beeindruckende Produktivität. In ihren Veröffentlichungen zeigt sich auch schon der Übergang zum Hauptthema ihres Lebens der "Modernen Algebra":

    1919: Emmy Noether, Die arithmetische Theorie der algebraischen Funktionen einer Veränderlichen in ihrer Beziehung zu den übrigen Theorien und zu der Zahlkörpertheorie, Jahresberichte der Deutschen Mathematiker Vereinigung 28 (1919), S. 182-203.

    1920: Emmy Noether, Zur Reihenentwicklung in der Formentheorie, Mathematische Annalen 81 (1920), 25-30.

    1920: Emmy Noether, Gemeinsam mit W. Schmeidler: Moduln in nichtkommutativen Bereichen, insbesondere aus Differential- und Differenzenausdrücken, Mathematische Zeitschrift 8 (1920), S. 1-35 (abgeschlossen 1. August 1919). Emmy Noether hatte schon im Juni 1917 in der Göttinger Mathematischen Gesellschaft über Laskers Zerlegungssätze der Modultheorie gesprochen, ihr Interesse an der Modul- und Idealtheorie begann also nicht erst nach dem Krieg, wie häufig behauptet wird.

    Im Herbst-Zwischensemester 1919, das für die Kriegsheimkehrer vom 22. September bis zum 20. Dezember angesetzt worden war, konnte Emmy Noether zum ersten Mal eine Lehrveranstaltung unter ihrem eigenen Namen ankündigen. Sie las Analytische Geometrie. Die Weihnachtsferien dauerten nur zwei Wochen, dann begann das verkürzte Wintersemester 1919/20, in dem sie eine Vorlesung aus ihrem eigenen Forschungsgebiet über algebraische und Differentialinvarianten anbot (auch wieder im WS 1921/22). In den dazwischenliegenden drei Semestern las sie Höhere Algebra (Endlichkeitssätze, Körpertheorie). Elementare Zahlentheorie und Algebraische Zahlkörper, alles jeweils vierstündig.

    Im März 1921 legte Emmy Noether ihre grundlegende Arbeit mit dem Titel "Idealtheorie in Ringbereichen" vor, die van der Waerden in seinem Nachruf 1935 bereits als "klassisch" bezeichnete und mit der nach der Meinung vieler Mathematiker die abstrakte Algebra als eigenständige Disziplin überhaupt erst begann.

    1921: Emmy Noether, Idealtheorie in Ringbereichen, Mathematisch Annalen 83 (1921), S. 24-66 (abgeschlossen im März 1921). Emmy Noether verallgemeinerte darin die Zerlegungssätze, die für ganze rationale Zahlen, bzw. für Ideale in algebraischen Zahlkörpern gelten, auf Ideale in beliebigen Ringbereichen. Sie bewies, dass sich in Ringen, in denen eine bestimmte von ihr erstmals in ihrer Bedeutung erkannte Endlichkeitsbedingung (der sog. Teilerkettensatz) gilt, eindeutige Zerlegungssätze formulieren lassen. Ringe, die diese Endlichkeitsbedingung erfüllen, heißen heute Noethersche Ringe. Über diese speziellen Ergebnisse hinaus formulierte Emmy Noether in dieser Arbeit außerdem einige grundlegende Definitionen, darunter erstmals allgemein, d.h. unabhängig von einem bestimmten Zahlkörper die des Ringes. Seitdem spielt dieser gleichberechtigt neben dem der Gruppe und des Körpers eine zentrale Rolle in der Algebra, und die kommutative Algebra ist seitdem wesentlich identisch mit dem Studium (kommutativer) Noetherscher Ringe.

    Am 13. Dezember 1921 starb Emmys Vater, Max Noether. Er hinterließ ihr ein kleines Vermögen, das allerdings durch die Inflation fast vollständig aufgezehrt wurde; der verbliebene Rest musste für die Pflege ihres behinderten Bruders Robert verwendet werden. Emmy Noether befand sich also nach dem Tod des Vaters in einer bedrückenden wirtschaftlichen Notlage.

    Am 9. Februar 1922 beschloss die Mathematisch-naturwissenschaftliche Abteilung für Emmy Noether die Amtsbezeichnung "nicht beamteter außerordentlicher Professor" zu beantragen, obwohl dafür eigentlich eine vorausgehende Privatdozentzeit von sechs Jahren Voraussetzung war. Die Fakultät argumentiert, dass wenn Emmy Noether keine Frau gewesen sei, sie bereits seit 1915 habiliert gewesen sei.

    Am 6. April 1922 wurde Emmy Noether der Titel "außerordentlicher Professor" verliehen mit dem üblichen Zusatz, dass dies keine Änderung ihrer Rechtstellung zur Folge habe und auch die "Übertragung einer beamteten Eigenschaft" damit nicht verbunden sei. Dies war ein "Titel ohne Mittel", d.h. ohne finanzielle Vergütung.

    Im November 1922 beschloss die Mathematisch-naturwissenschaftliche Fakultät (die Abteilung war inzwischen eine eigenständige Fakultät geworden), Emmy Noether einen Lehrauftrag zu erteilen. Durch ein Versehen wurde der Antrag an den Minister nicht abgeschickt, was erst vier Monate später bemerkt wurde. Der Bitte um rückwirkende Erteilung wurde nicht entsprochen. Erst am 20. April 1923 beauftragte der Minister Emmy Noether, die seit 1916 in Göttingen jedes Semester unentgeldlich Lehrveranstaltungen abgehalten hatte, vom SS 1923 an, Algebra in Vorlesungen und Übungen zu vertreten. Nach dem Ende der Hyperinflation erhielt sie für diesen Lehrauftrag, der jedes Semester erneuert werden musste, ab November 1923 150 Mark und ab Juni 1924 etwa 250 Mark monatlich. Bis auf die geringen Hörergelder von monatlich zwischen 5 und 15 M war dies Emmy Noethers einziges Einkommen.

    Ihr Bruder Fritz Noether hatte Anfang 1921 eine Tätigkeit als mathematischer Physiker bei den Siemens-Schuckert-Werken in Berlin aufgenommen. 1922 erhielt er einen Ruf an die Universität Breslau, wo er bis zum November 1933 als Ordinarius tätig war.

    Von 1920 bis 1925 hatte Emmy Noether auf jeder Jahresversammlung der Deutschen Mathematiker-Vereinigung etwas Neues zu berichten. Dass sie eingeladen wurde, 1922 für die DMV einen Bericht über "Algebraische und Differentialinvarianten" zu erstatten, zeugt von besonderer Anerkennung durch ihre Fachkollegen.

    1922/23: Emmy Noether, Algebraische und Differentialinvarianten, Jahresberichte der Deutschen Mathematiker Vereinigung 32 (1923), S. 177-184 (eingegangen am 26. Oktober 1922).

    Pavel Sergejewitsch Alexandroff war 1923 das erste Mal in Göttingen. Von 1926 bis 1930 hielt er hier regelmäßig Vorlesungen. Er war eng mit Emmy Noether befreundet. Sein Arbeitsgebiet war die Topologie.

    Im Herbst 1924 kam Bartel L. van der Waerden nach Göttingen. Van der Waerden promovierte 1926 in Amsterdam, bezeichnete sich aber selbst zeit seines Lebens immer als einen Schüler Emmy Noethers.

    Van der Waerdens Erinnerungen "Meine Göttinger Lehrjahre".

    Am 25. Februar 1925 promovierte Emmy Noether zum ersten Mal offiziell einen ihrer Schüler. Obwohl bereits zur a.o. Professorin ernannt, war Emmy Noether auch für Grete Hermann zunächst nicht als Hauptreferentin vorgesehen, sondern Edmund Landau. Dieser erklärte jedoch in seinem Gutachten einfach eigenständig Emmy Noether zur Hauptreferentin. Insgesamt betreute Emmy Noether bis zu ihrer Emigration 1933 offiziell als Hauptreferentin acht Dissertationen, dazu kommt noch eine weitere im Dezember 1933, für die sie – obwohl schon in den USA – noch das Gutachten verfasste, und noch eine, für die sie noch 1934 als Korreferentin fungierte. Rechnet man noch die beiden von Emmy Noether in Erlangen schon vor ihrer Habilitation angeregten Doktorarbeiten, eine, die durch den Kriegstod des Promoventen nicht zum Abschluss kam und fünf weitere durch Emmy Noethers Emigration und ihren frühen Tod nicht von ihr zu Ende geführte Promotionen dazu, so kommt man auf insgesamt 17 Schüler von Emmy Noether, unter Einschluß von van der Waerden sogar auf 18. Zwei von ihnen waren Frauen, eine davon in den USA.

    Emmy Noethers Einfluß auf andere Mathematiker, der sich keineswegs auf die Algebra beschränkte, sondern auch andere Fachrichtungen einschloß, war so groß wie nur bei ganz wenigen anderen Mathematikern (Hilbert vielleicht ausgenommen). "Meine Methoden sind Arbeits- und Auffassungsmethoden und daher anonym überall eingedrungen", schrieb sie einmal selbst erklärend dazu an Helmut Hasse. Emmy Noether übte deshalb eine enorme Anziehungskraft auf Mathematiker aus der ganzen Welt aus. Sie kamen aus den Vereinigten Staaten, der Sowjetunion, aus Frankreich, den Niederlanden, aus Österreich, aus der Schweiz, aus Palästina, ja sogar aus China und Japan, und natürlich von den anderen deutschen Universitäten nach Göttingen, um mit ihr zu diskutieren. In ihren Vorlesungen saßen deshalb oft ebenso viele Dozenten wie Studenten. Wenn heute von der "Noether-Schule" gesprochen wird, so ist damit nicht der eher kleine Kreis ihrer direkten Schüler gemeint, sondern diese Mathematiker aus dem In - und Ausland, die in engem Gedankenaustausch mit Emmy Noether, aber durchaus eigenständig, die abstrakte Algebra (weiter-) entwickelten und zu ihrer Verbreitung beitrugen.

    Foto von Emmy Noether in den Zwanziger Jahren

    Noch ehe ihre Ideen in der kommutativen Algebra von ihren Zeitgenossen voll aufgenommen und akzeptiert worden waren, wandte Emmy Noether sich einem anderem großen algebraischen Thema des 19. und 20. Jahrhunderts zu, nämlich der nicht-kommutativen Algebra und der Darstellungstheorie. Im WS 1927/28 las sie erstmals "hyperkomplex", wie sie selbst sagte.

    Auf dem Internationalen Mathematiker-Kongress 1928 in Bologna, an dem – erstmals nach dem Ersten Weltkrieg – deutsche Mathematiker wieder teilnehmen durften, präsentierte sie die Ergebnisse ihrer neuen Forschungsrichtung "Hyperkomplexe Größen". Auf dem nächsten Kongress 1932 in Zürich hielt sie bereits das Hauptreferat zu diesem Thema.

    1928: Emmy Noether, Hyperkomplexe Grössen und Darstellungstheorie in arithmetischer Auffassung, Atti Congresso Bologna 2 (1928), S. 71-73.

    1929: Emmy Noether, Hyperkomplexe Grössen und Darstellungstheorie, Mathematische Zeitschrift 30 (1929), S. 641-692. Dabei handelte es sich um eine Ausarbeitung ihrer Vorlesung vom Wintersemester 1927/28, die van der Waerden angefertigt hat. Die Bearbeitung für den Druck hat Emmy Noether mit ihm gemeinsam vorgenommen.

    1932: Emmy Noether, Hyperkomplexe Systeme in ihren Beziehungen zur kommutativen Algebra und Zahlentheorie, Verhandlungen des Internationalen Mathematiker Kongresses Zürich 1 (1932), S. 189-194.

    WS 1929/30: Emmy Noether, Algebra der hyperkomplexen Größen, abgedruckt in: Gesammelte Abhandlungen, 1983, S. 711-763. Dabei handelt es sich um eine Vorlesung, Emmy Noether im WS 1929/30 gehalten hat und die von Max Deuring ausgearbeitet wurde.

    1932/33: Emmy Noether, Nichtkommutative Algebren, Mathematische Zeitschrift 37 (1933), S. 514-541 (eingegangen am 8. Juni 1932).

    Im Herbst 1928 folgte Emmy Noether einer Einladung von Alexandroff und verbrachte das Studienjahr 1928/29 in Moskau. Sie hielt eine Vorlesung über abstrakte Algebra an der Moskauer Universität und ein Seminar über Algebraische Geometrie in der Kommunistischen Akademie, veröffentlichte eine Arbeit in deutscher Sprache in den Berichten der Moskauer Mathematischen Gesellschaft und regte während dieser Zeit auch russische Mathematiker zu eigenen Arbeiten an.

    1929: Emmy Noether, Über Maximalbereiche von ganzzahligen Funktionen, Rec. Soc. Math. Moscou 36 (1929), S. 65-72.

    Im SS 1930 vertrat Emmy Noether Carl Ludwig Siegel an der Universität Frankfurt, während Siegel dafür in Göttingen las.

    1932 erhielt Emmy Noether gemeinsam mit Emil Artin, mit dem sie eng zusammengearbeitet hatte, für ihr gesamtes wissenschaftliches Werk den renommierten Ackermann-Teubner-Gedächtnis Preis zur Förderung der Mathematischen Wissenschaften, der mit 500 M dotiert war. Auf dem Kongress in Zürich im gleichen Jahr, an dem etwa 700 Mathematiker teilnahmen und auf dem Emmy Noether als erste und einzige Frau überhaupt vortrug, schlug ihr allseits Anerkennung und Sympathie entgegen.

    Aber: Emmy Noether erhielt nie einen Ruf an eine deutsche Universität, wurde nicht in die Göttinger Akademie der Wissenschaften aufgenommen (die Mathematisch-physikalische Klasse der Göttinger Akademie nahm erst 1993 erstmals eine Frau als ordentliches Mitglied auf), und wurde auch nicht offizielles Redaktionsmitglied der Mathematischen Annalen, obwohl sie nicht nur einige ihre wichtigsten Arbeiten in dieser Zeitschrift veröffentlichte, sondern für die Annalen auch eine Vielzahl von Arbeiten anderer redigierte.

    Am 25. April 1933 traf beim Kurator der Universität Göttingen ein Telegramm aus dem Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung ein, das die sofortige Beurlaubung von sechs Göttinger Hochschullehrern verfügt. Unter ihnen war auch Emmy Noether. Grundlage der Beurlaubung war das am 7. April 1933 in Kaft getretene "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums".

    Benachrichtigung über die Beurlaubung per Telegramm am 25. April 1933

    Obwohl Emmy Noether als nicht-beamtete außerordentliche Professorin zu diesem Zeitpunkt vom Gesetz noch gar nicht betroffen war (erst die 3. Durchführungsverordnung vom 6. Mai 1933 betraf auch nicht-beamtete-außerordentliche Professoren), wurde sie mit sofortiger Wirkung von allen ihren Universitätsverpflichtungen entbunden, so dass auch die für das SS 1933 angekündigte Vorlesung über "Hyperkomplexe Methoden in der Zahlentheorie" nicht mehr stattfinden konnte. Man zahlte ihr aber, wie allen anderen Beurlaubten auch, zunächst weiter ihre Bezüge.

    Helmut Hasse organisierte Gutachten von 14 Fachkollegen "über die wissenschaftliche Bedeutung Fräulein Emmy Noethers", um ihr "eine weitere Existens am mathematischen Institut Göttingen in irgendeiner Form zu erhalten." Der Göttinger Kurator Justus Theodor Valentiner schickte die Gutachten mit einer ablehnenden Stellungsnahme seinerseits am 7. August 1933 an das Ministerium weiter. Valentiner hob hervor, dass Emmy Noether von 1918 bis heute auf "marxistischem Boden gestanden" habe und dass von ihr "ein rückhaltloses Eintreten für den nationalen Staat nicht zu erwarten sei." Er legte dem Ministerium also eine mögiche Entlassung nach § 4 (politische Unzuverlässigkeit) des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums nahe, die bisher noch nicht im Gespräch gewesen war.

    Zwölf Doktoranden und von Emmy Noether, Studenten der Mathematik an der Universität Göttingen, verfassten ebenfalls eine Petition für Emmy Noether, in der sie Emmy Noether "arisches Denken" bescheinigten und darauf verwiesen, dass ihre Schüler sämtlich arisch seien. Von der Petition existiert in den Göttingen Archiven nur eine undatierte Abschrift ohne die zwölf Unterschriften.

    Über diese erste Entlassungswelle an den deutschen Universitäten berichteten sowohl das Göttinger Tageblatt am 26. April 1933 und in Folge davon auch die internationalen Zeitungen ausführlich. So veröffentlichte etwa der Manchester Gurdian am 13. Mai 1933 eine Liste mit 194 entlassenen Hochschullehrern. Auf diese Weise erfuhren auch Emmy Noethers in der ganzen Welt verstreuten wissenschaftlichen Freunde von ihrer Entlassung und schon im Frühsommer 1933 bemühten sich sowohl die Universität in Oxford, als auch das renommierte Frauencollege Bryn Mawr in den USA (die "Schwesteruniversität" von Princeton), sowie ihre sowjetischen Kollegen um die Finanzierung einer Stelle für Emmy Noether.

  • Schon Ende April 1933 machte Salomon Lefschetz, Mathematiker in Princeton und 1931 für ein Semester als Gastprofessor in Göttingen, der Leiterin der Mathematischen Abteilung in Bryn Mawr Anna Pell Wheeler, den Vorschlag, Emmy Noether für 1933/34 nach Bryn Mawr einzuladen. Anna Pell Wheeler hatte ebenfalls Beziehungen nach Göttingen, weil sie hier 1906/07 und 1908 studiert hatte.
  • Im Juli 1933 hatte das Emergency Committee to Aid Displaced German Scholars, eine amerikanische Hilfseinrichtung, die finanziell mit der Carnegie und Rockefeller Foundation verbunden war, dem Bryn Mawr College 2000 Dollar für die Unterstützung eines deutschen Hochschullehrers eigener Wahl zur Verfügung gestellt. Am 11. Juli 1933 schrieb die Präsidentin von Bryn Mawr Marion Park unter ausdrücklichen Bezug auf den Vorschlag von Lefschetz an die Rockefeller Foundation in New York und beantragte einen Zuschuss von weiteren 2000 Dollar, um das Gehalt von Emmy Noether auf eine angemessene Höhe anheben zu können.
  • Ebenfalls im Juli 1933, nur ein paar Tage nach Marion Park schrieb die Leiterin des Sommerville Colleges in Oxford Helen Darbyshire ebenfalls mit der Bitte um Unterstützung für Emmy Noether an die Pariser Niederlassung der Roeckefeller Foundation.
  • Zwischen Juli und September 1933 gingen einen Vielzahl von Briefen und Telegrammen zwischen Paris, New York, Bryn Mawr und Oxford hin und her. Aus einer Aktennotiz vom 25. September 1933 über ein Telefongespräch der New Yorker Niederlassung der Rockefeller Foundation mit der Direktorin von Sommverville Oxford geht hervor, dass diese kategorisch erklärt habe, dass Bryn Mawr kein passender Ort für Emmy Noether sei. Der Vertreter der Rockefeller Foundation in New York vermerkte dazu, dass die Direktorin Altphilologin sei und von Mathematik keine Ahnung habe. Außerdem habe sie keine Ahnung gehabt, woher ihr College einen Zuschuss zu den bisher verfügbaren 24 engl. Pfund für Emmy Noethers Gehalt bekommen könne.

    Emmy Noether setzte im SS 1933 ihre mathematische Arbeit mit ihren Schülern in ihrer Wohnung fort. 1932 hatte sie noch die dreibändige Edition der Werke Dedekinds abschließen können und bereitete nun die Herausgabe der Korrespondenz Dedekinds mit Georg Cantor vor. Am 10. September 1933 schrieb sie an den Mathematiker Heinrich Brandt in Halle, dass sie im Januar-Ostern-Term in Oxford vortragen werde und versuchen wolle, das Angebot aus den USA um ein Jahr zu verschieben.

    Richard Dedekind, Gesammelte mathematische Werke, hg. von Robert Fricke, Emmy Noether, Öystein Ore, Drei Bände, Braunschweig 1930-1932

    Briefwechsel Cantor-Dedekind, hg. von E. Noether und J. Cavaillès, Paris 1937.

    Am 13. September 1933 erhielt Emmy Noether vom Kurator der Universität Göttingen die Nachricht, dass ihr per Erlass des Ministers vom 2. September 1933 aufgrund von § 3 (nicht-arische Abstammung) des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums die Lehrbefugnis entzogen worden sei. Die Zahlung ihrer Bezüge wurde mit Ablauf des Monats eingestellt.

    Nach langwierigen und komplizierten Verhandlungen erhielt das Bryn Mawr College im September 1933 von der Rockefeller Foundation aus New York die Zusage für die beantragte Unterstützung für Emmy Noether von 2000 Dollar. Am 2. Oktober 1933 erhielt der Leiter der Abteilung für Naturwissenschaften der New Yorker Roeckefeller Foundation Warren Weaver, der einen Großteil der Verhandlungen geführt hatte, ein Telegramm von der Präsidentin von Bryn Mawr:
    DOCTOR EMMY NOETHER HAS CABLED TODAY ACCEPTING APPOINTMENT AT BRYN MAWR FOR THIS YEAR
    (zitiert nach Clark Kimberling, Emmy Noether an Her Influence, in: A Tribute to Her Life and Work, New York, 1981, S. 31.)

    Ende Oktober 1933 schiffte sich Emmy Noether nach Amerika ein.

    Foto von Emmy Noether auf dem Göttinger Bahnhof vor ihrer Emigration

    In Bryn Mawr organisierte Anna Pell Wheeler eine kleine Gruppe von bereits graduierten Studentinnen, die in der Lage waren, an einem fortgeschrittenen Seminar über Algebra teilzunehmen. Emmy Noether betreute auch eine Dokorandin (Ruth Stauffer) und arbeitete eng mit Olga Taussky zusammen, die nach ihrer Promotion 1931 in Wien auch in Göttingen gearbeitet hatte, wo sie u.a. an der Herausgabe der Werke Hilberts beteiligt war. Taussky hatte auf Vorschlag von Emmy Noether eines der Stipendien erhalten, die Bryn Mawr an ausländische Frauen vergab. Zum Kreis um Emmy Noether gehörten außerdem Grace Shover (später Quinn) und Marie Weiss, die mit Stipendien studierten, die Anfang 1934 neu geschaffen worden waren und Emmy Noethers Namen trugen: das Emmy Noether-Fellowhip (Grace Shover, früher Ohio State University) und das Emmy Noether Scholarship (Marie Weiss, zuvor Stanfort Universität). Die Stipendien wurden allerdings nur einmal vergeben.

    Ab Februar 1934 hielt Emmy Noether einmal wöchentlich auch Vorlesungen im 1930 gegründeten Institute for Advanced Study, dem sog. Flexner-Institut, im nahen Princeton, wo auch Albert Einstein und Hermann Weyl lehrten.

    In Moskau hatte sich auch Pavel Alexandroff, seit er von ihrer Entlassung erfahren hatte, um eine Stelle für Emmy Noether bemüht. Nach seinen Erinnerungen sei sie davon überzeugt gewesen, dass sie nur in Moskau eine mathematische Schule der Art aufbauen können, wie sie in Göttingen existiert habe. Die Verhandlungen über einen Lehrstuhl für Algebra für Emmy Noether an der Moskauer Universität hätten sich aber so lange hingezogen, dass Emmy Noether nicht länger habe warten können und deshalb Bryn Mawr akzeptiert habe. Doch die Moskauer Pläne wurden nicht endgültig begraben. Am 19. März 1934 schrieb Emmy Noether an Alexandroff, dass sie noch immer nichts von der Alebraprofessur in Moskau gehört habe, im übrigen aber auch nicht wisse, was in zwei Jahren sein werde. Und am 3. Mai 1934 teilte sie ihm die Emigrationspläne ihres Bruders Fritz Noether mit, der mit seiner Familie nach Tomsk gehen wolle und den sie dort sicher einmal besuchen werde. Dabei werde sie sicher auch in Moskau vorbeikommen. Bezüglich der Algebraprofessur wolle sich sich aber trotz des Verlockenden, das dieses Angebot aus Moskau habe, noch nicht binden. Bis Herbst 1935 sei sie in Bryn Mawr verpflichtet und danach habe mir in Princeton gesagt, dass sie bleiben könne. Außerdem habe sie sich an Reisemöglichkeiten in den USA gewöhnt. "Vielleicht sind in dieser Hinsicht in Amerika meine Ansprüche gestiegen", schrieb sie. (zitiert nach: Renate Tobies, Briefe Emmy Noethers an P.S. Alexandroff, in: NTM N.S. 11 (2003) 2, S. 100-115, hier S. 107). Emmy Noether hatte also bereits im Mai 1934 ihre Moskauer Pläne, so sie diese denn überhaupt ernsthaft verfolgt hatte, endgültig aufgegeben.

    Im Sommer 1934 reiste Emmy Noether nach Deutschland. Sie wollte vor allem ihren Bruder vor seiner Emigration noch einmal sehen. Sie reiste zunächst zu Emil Artin nach Hamburg, wo sie Vorträge über ihre neuesten Erkenntnisse auf dem Gebiet der nichtkommunativen Algebren hielt, die auf begeisterte Resonanz stießen. Die Atmosphäre in Göttingen dagegen war trostlos. Fast niemand von ihren alten Kollegen war in der Stadt, auch die nicht, die nicht emigriert waren. Hasse, der im Mai 1934 auf den Lehrstuhl von Hermann Weyl nach Göttingen berufen worden war, war noch in Marburg, van der Waerden und Max Deuring in Leipzig. Die Göttinger Professoren mieden sie weitgehend und als sie die Bibliothek benutzen wollte, brauchte sie dafür eine Genehmigung, die man ihr als "auswärtiger Wissenschaftlerin" aber immerhin erteilte. Emmy Noether löste ihren Haushalt in Göttingen endgültig auf und verschiffte ihre Möbel in die USA.

    Nach ihrer Rückkehr in die USA im September 1934 wurde sie Mitglied der Amerikanischen Mathematischen Gesellschaft, sie hielt weiter engen Kontakt mit ihre Schülern und Kollegen in der ganzen Welt, bemühte sich weiter um Beiträge für die Mathematischen Annalen, nahm Einladungen zu wissenschaflichen Vorträgen an und hoffte auf eine feste Position in Princeton. Ihre eigenen wissenschaftlichen Forschungen kamen nicht mehr zur Publikationsreife.

    Auf Initiative von Jacob Billikopf, einem russischstämmigen jüdischen Gewerkschafter und Sozialwissenschaftler, der große Summen von Geld für die Flüchtlinge aus Europa sammelte, wurden Ende 1934/Anfang 1935 wieder Gutachten u.a. von Salomon Lefschetz, Norbert Wiener und auch wieder Albert Einstein für Emmy Noether geschrieben und an die Rockefeller Stiftung weitergeleitet, um ihr endlich eine feste akademische Stellung zu verschaffen, weil nur unter dieser Voraussetzung die Rockefeller Foundation zu einer weiteren Unterstützung bereit war. Das Problem bei einer festen Stelle war allerdings, dass Emmy Noether dann auch Anfängerstudentinnen hätte unterrichten müssen und man sie in Bryn Mawr nicht für besonders geeignet dafür hielt. In Emmy Noethers Fall machte man bei der Rockefeller Stiftung aber eine Ausnahme und bewilligte ihr allerdings ein um ein Viertel gekürztes Gehalt für weitere zwei Jahre. Außerdem bestanden Pläne, Emmy Noether später einmal tatsächlich ganz am Flexner Institut in Princeton unterzubringen.

    Am 10. April 1935 musste sich Emmy Noether einer Gebärmutteroperation unterziehen, die sie zunächst gut überstand. Doch nach drei Tagen kam es zu Komplikationen und am 14. April 1935 starb Emmy Noether.

    Foto von Emmy Noether mit ihrem Bruder Fritz Noether während eines Ostseeurlaubs 1933

    Ihr Bruder Fritz Noether war als Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs (er war im April 1917 verwundet worden und hatte das Eiserne Kreuz bekommen) zunächst nicht vom Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums betroffen. Doch bereits am 26. April 1933 wandten sich die Hochschulgruppenführer und der Führer der Studentschaft der TH Breslau mit der Forderung an den Rektor, zwei Privatdozenten und drei Professoren, unten ihnen Fritz Noether, sofort zu beurlauben. Fritz Noether stellte daraufhin seine Prüfungs- und Vorlesungstätigkeit zunächst ein, nahm diese jedoch am 3. Mai 1933, als er glaubte, dass sich die Lage beruhigt habe, wieder auf. Doch am 25. August 1933 schrieb erneut die Studentenschaft der TH an den Minister und forderte, Fritz Noether bis zum Beginn des Wintersemesters seines Amtes zu entheben und seinen Kriegsdienst nicht als Ausnahmevoraussetzung im Sinne des Gesetzes zu werden, da er nicht nur Jude, sondern auch linksradikal sei. Fritz Noether wurde dann nicht aufgrund § 3 (Nicht-Arier), sondern aufgrund § 4 (politische Unzuverlässigkeit) mit Schreiben vom 11. September 1933 aus dem Staatsdienst entlassen. Am 18. September und 3. Oktober 1933 legte Fritz Noether Beschwerde gegen diese Entlassungsverfügung ein. Das Ministerium prüfte zwar seine Einwände tatsächlich im Einzelnen, bestätigte aber am 27. Dezember 1933 die Entlassung Fritz Noethers. Nach einem entsprechenden Bittgesuch vom 6. Februar 1933 wurde ihm auch ein Ruhegehalt bewilligt, das bis zu seiner Auswanderung im September 1934 nach Tomsk in Westsibirien gezahlt wurde. Das Angebot für seine Berufung nach Tomsk hatte die Notgemeinschaft Deutscher Wissenschaftler im Ausland über ihr Büro in der Schweiz organisiert. Alternativen in Westeuropa oder in den USA gab es zu diesem Zeitpunkt kaum noch und Tomsk besaß als älteste sibirische Universität einen recht guten Ruf. Man übertrug Fritz Noether dort sogar die Leitung der Abteilung für mathematische Physik und theoretische Mechanik und ermöglichte ihm die Teilnahme am Internationalen Mathematikerkongress in Oslo im Sommer 1936. Im April 1935 war Fritz Noether noch einmal für einige Tage in Deutschland, dort erfuhr er vom plötzlichen Tod seiner Schwester. Am 5. September 1935 war er dann Ehrengast der Gedenkveranstaltung der Moskauer Mathematischen Gesellschaft für Emmy Noether, auf der Alexandroff als Präsident der Gesellschaft Emmy Noether in seiner berühmten Rede gedachte, die ihren 1983 herausgegebenen Gesammelten Werken vorangestellt wurde. Am 22. November 1937 wurde Fritz Noether wegen Spionageverdacht verhaftet und in einem anschließenden Prozess in Nowosibirsk für schuldig befunden. Das Urteil lautete auf 25 Jahre Gefängnisstrafe mit Konfizierung des Besitzes. Drei Jahre nach der Verurteilung wurde Fritz Noether erneut vor Gericht gestellt und nun der Agitation, die "zu Sturz, Unterhöhlung oder Schwächung der Sowjetherrschaft" auffordert, beschuldigt. Ohne gerichtliche Untersuchung wurde er am 8. September 1941 zum Tode durch Erschießen verurteilt. Zwei Tage später, am 10. September 1941, wurde das Urteil im Gefängnis von Orjol vollstreckt, wohin das Fritz Noether schon vor dem neuen Prozeß aus seinem Moskauer Gefängnis verlegt worden war. Fritz Noethers Frau Regine war schon 1935 gestorben. Die beiden Söhne Fritz Noethers Gottfried und Hermann konnten 1937 kurz nach der Verhaftung des Vaters nach Schweden und von dort in die USA entkommen. Am 12. Mai 1989 informierte die Botschaft der UdSSR Hermann Noether in den USA von der vollständigen Rehablitierung seines Vaters.

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