Cordula Tollmien

Juden in Göttingen

Boykott, Entlassungen und Verdrängung

3. Emigration und Deportation

Bis Ende 1938 waren bereits mindestens 204 jüdische Göttinger emigriert; insgesamt gelang 304 Göttinger Juden die Flucht aus Deutschland. Anders als im Reich, in dem 1939 das bei weitem stärkste Emigrationsjahr war, bildete dabei in Göttingen das Jahr 1933 mit mindestens 68 jüdischem Emigranten (das waren fast 14 % aller damals in Göttingen lebenden Juden) den absoluten Höhepunkt der Emigrationswelle, was wohl im wesentlichen auf den Exodus der vielen jüdischen Wissenschaftler in Göttingen zurückzuführen ist. In den Jahren 1934 bis 1937 verließen dann durchschnittlich etwa 20 Göttinger Juden pro Jahr die Stadt.

Letzteres scheint eine vergleichsweise geringe Zahl zu sein, die jedoch in zumindest zweierlei Hinsicht einen falschen Eindruck vermittelt: Einmal beschränkte sich die Abwanderung von Juden aus Göttingen nicht auf die Emigration ins Ausland. Dazu kam vielmehr eine nicht zu vernachlässigende Binnenwanderung, soll heißen, eine Abwanderung in die Großstädte, die bessere Arbeitsmöglichkeiten oder später auch größerer Chancen zum Untertauchen boten. So gingen viele jüdische Göttinger nach Berlin und Frankfurt, vor allem aber nach Hamburg, von wo aus die Schiffe in die Vereinigten Staaten ausliefen. Nach Jahren differenzierte zuverlässige Zahlen sind hier schwer zu gewinnen, doch verließen bis zum Ende des Jahres 1938 zusätzlich zu den Auslandsemigranten insgesamt wohl noch etwa 40 Menschen jüdischer Abstammung Göttingen. Zum anderen aber vermitteln die vergleichsweise geringen Emigrationszahlen fälschlicherweise den Eindruck, als hätten die meisten Göttinger Juden - sich in trügerischer Sicherheit wiegend oder aber apathisch in ihr Schicksal ergeben - sich in ihrem immer mehr beschränkten Leben in Göttingen eingerichtet. Dem war aber nicht so: Ostfeld schildert eindrücklich, daß es während seines Rabbinats in Göttingen kein wichtigeres Thema in seiner Gemeinde gab als die Auswanderung - ein Thema, das keins seiner Gemeindemitglieder unberührt ließ und tiefe Spuren in allen Familien hinterließ, ob man sich nun gegen oder für die Emigration entschied. Schon lange, bevor die Nationalsozialisten dies systematisch taten, riß der Zwang zur Emigration viele jüdische Familien auseinander, trennte Eltern von ihren Kindern und zerstörte den Generationenzusammenhang. Denn viele Eltern entschlossen sich schweren Herzens, ihre Kinder allein ins Ausland zu schicken. Viele Jugendliche verließen ihrerseits ihre Eltern, die sich (noch) nicht zur Emigration entschließen konnten. Was dies für die zurückbleibenden Eltern, was es für die Kinder und Jugendlichen bedeutete, die auf diese Weise oft zu den einzigen Überlebenden ihrer Familien wurden, läßt sich nur erahnen. Es ist bis heute nicht bekannt, wie viele Kinder und Jugendliche von dieser traumatischen Erfahrung betroffen waren. Nach ersten Nachkriegsschätzungen waren es reichsweit mindestens 30 000 Kinder unter 16 Jahren (die älteren Jugendlichen sind überhaupt nicht erfaßt), die ohne ihre Eltern und Geschwister ins Exil gehen mußten. Für Göttingen läßt sich nur feststellen, daß 1933 noch etwa 60 Kinder unter 14 Jahren und 123 junge Erwachsene zwischen 15 und 30 Jahren in der Gemeinde lebten, im Oktober 1938 aber nur noch 13 Kinder und 29 junge Erwachsene. Prozentual verringerte sich der Anteil junger Menschen in der Göttinger Gemeinde auf etwa die Hälfte, während sich demgegenüber der Anteil der über 65jährigen verdoppelte. Diese Überalterung wurde allerdings nicht nur durch die Abwanderung der Jugend, sondern auch durch die - teilweise damit zusammenhängende - niedrige Geburtenrate bei den jüdischen Göttingern verursacht. So wurden zwischen 1933 und 1938 nur noch vier jüdische Kinder in Göttingen geboren - das letzte war Denny Junger, der am 29. Oktober 1938 als Sohn des erst kurz zuvor nach Göttingen gezogenen Lehrers Heinz Junger und seiner Frau Else zur Welt kam. Als elf Tage später die etwa 220 in Göttingen verbliebenen Juden von brandschatzenden und prügelnden SA- und SS-Leuten aus dem Schlaf geschreckt wurden, brannte mit der Synagoge auch die neben ihr gelegene Wohnung der Jungers nieder, und Else Junger mußte mit ihrem Säugling in die Wochenstation der Universitätsfrauenklinik fliehen. Bis Ende 1938 waren bereits mindestens 204 jüdische Göttinger emigriert; insgesamt gelang 304 Göttinger Juden die Flucht aus Deutschland. Anders als im Reich, in dem 1939 das bei weitem stärkste Emigrationsjahr war, bildete dabei in Göttingen das Jahr 1933 mit mindestens 68 jüdischem Emigranten (das waren fast 14 % aller damals in Göttingen lebenden Juden) den absoluten Höhepunkt der Emigrationswelle, was wohl im wesentlichen auf den Exodus der vielen jüdischen Wissenschaftler in Göttingen zurückzuführen ist. In den Jahren 1934 bis 1937 verließen dann durchschnittlich etwa 20 Göttinger Juden pro Jahr die Stadt.

Zwei Tage nach dem Pogrom verfielen mit der "Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben" vom 12. November 1938 alle noch tätigen jüdischen Unternehmen der "Zwangsarisierung" bzw. Liquidation (in Göttingen schlossen als letzte am 1. März 1939 die Gebrüder Hahn ihre Betriebe). Die wenigen Berufe, die Juden bis dahin noch offengestanden hatten, waren ihnen mit dieser Verordnung nun auch noch versperrt: Wer nach den "Nürnberger Gesetzen" als Jude galt, durfte von nun ab keinen selbständigen Betrieb irgendwelcher Art mehr führen oder in leitender Stellung angestellt sein. Es war ihm verboten, auf Messen und Märkten zu verkaufen oder Bestellungen aufzunehmen. Praktisch war vom 12. November 1938 bis zum dem Zeitpunkt, als die Juden im Krieg zur Zwangsarbeit eingezogen wurden, nur noch eine sehr kleine Zahl von ihnen erwerbstätig. Sie arbeiteten zumeist bei den jüdischen Gemeinden oder anderen jüdischen Organisationen.

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