Cordula Tollmien Fliegende Büffel Leseprobe

Cordula Tollmien: Fliegende Büffel

Der Traum

Ein paar Tage später sitzt Rollendes-Mädchen wieder auf ihrem Platz oben auf dem kleinen Hügel. Langsam kommt der Frühling, aber es ist immer noch kühl. Sie hat sich in ihre Decke gehüllt.

Seit drei Tagen hat sie nichts gegessen. Es gibt nichts zu essen im. Lager, aber Rollendes-Mädchen wollte auch nicht essen. Sie wollte fasten, um für die Gedanken und Träume bereit zu sein, auf die sie wartet. Sie hat in den Nächten zuvor auch nur ganz wenig geschlafen, und jetzt ist sie müde und wach zugleich. Alles um sie herum erscheint ihr wie hinter einem Schleier. Ihren Hunger spürt sie nicht mehr. Sie fühlt sich ganz leicht, so, als ob sie schwebe.

Rollendes-Mädchen sitzt und wartet. Sie hat die Augen offen, aber sie sieht nicht, was unten im Lager zwischen den Zelten geschieht. Rollendes-Mädchen sieht nach innen. Oben im Baum sitzt ein kleiner Vogel und singt. Rollendes-Mädchen hört ihn, aber nicht wie einen Vogel, der singt, sondern wie eine Melodie tief in ihrem Innern. Sie fröstelt, weil es langsam Abend wird und die Sonne sie nicht mehr wärmt. Sie wickelt sich fester in ihre Decke und sitzt dann wieder ganz lange, ohne sich zu bewegen. Stunde um Stunde sitzt sie so und fühlt auch die Kälte nicht mehr.

Die Sonne ist untergegangen. Unten im Lager ist alles ruhig. Aus den Zelten steigt leichter Rauch. Rollendes-Mädchen sieht den Rauch nicht, sie merkt nicht, daß es längst dunkel ist. Sie liegt zusammengerollt in ihrer Decke und schläft.

Und im Schlaf sieht sie die Büffel. Sie stehen in einem Tal und grasen, eine riesige Herde, friedlich und ruhig. Und je länger Rollendes-Mädchen sie betrachtet, desto mehr Büffel werden es. Schöne, große, starke Büffel: Bullen und Kühe und Kälber. Immer mehr werden es, bis schließlich das ganze Tal voll von ihnen ist. Dann taucht plötzlich ein großer Schwarm schwarzer Krähen auf und kreist über der Herde. Sie kreischen und stoßen herab und steigen wieder auf. Die Herde wird unruhig. Die Tiere scharren mit den Hufen. Und dann beginnen die ersten zu laufen. Sie laufen erst langsam, dann immer schneller und reißen alle anderen mit. Ihre Hufe hallen donnernd durch das Tal. Rollendes-Mädchen fühlt einen Luftzug, sie gleitet durch die Luft, nein, sie reitet: Sie reitet auf dem ersten Büffel ganz vorn. Sie sitzt auf seinem Rücken, und der Büffel rast mit ihr dahin, daß sie das Gefühl hat zu fliegen. Der Büffel wird schneller und schneller, seine Hufe lösen sich vom Boden, und jetzt fliegen sie wirklich, fliegen vor den anderen Büffeln her, die sich nach und nach alle in die Luft erheben. Sie fliegen über das Tal, immer höher und höher, hinein in die Sonne, wo sich alles in Wärme und Helligkeit auflöst.